Es ist das jüngste Referat der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes (vfdb): Referat 15 „Rettungsdienst“. Der erste Vorsitzende ist Kevin Grigorian von der Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH). Im Interview erklärt er, warum es nicht „den“ Rettungsdienst gibt, welche Gefahren durch den Zuständigkeitsstreit entstehen und ob der Telenotarzt die Lösung aller Probleme ist. Die Fragen stellte Bennet Biskup-Klawon.
Behörden Spiegel: Sie sind der erste Vorsitzende des neuen vfdb-Referats Rettungsdienst. Welche Aufgaben sehen Sie für das Referat?
Kevin Grigorian: Das Referat bietet die großartige Möglichkeit, organisationsübergreifend mit anderen Experten in den Austausch zu kommen. Gemeinsam mit den Fachleuten anderer Hilfsorganisationen, der Feuerwehren, privaten Dritten und der Wissenschaft können wir uns als neutrales Netzwerk an dem Diskurs über die Weiterentwicklung des Rettungsdienstes beteiligen. Die vfdb ist mit dem Technisch-Wissenschaftlichen Beirat und den anderen 14 Referaten auch wissenschaftlich sehr aktiv. Die Wissenschaft ist eine Perspektive, aus der der Rettungsdienst bisher wenig betrachtet wurde und die es in den kommenden Jahren zu stärken gilt. Jede Diskussion um die Fortentwicklung unseres Rettungsdienstsystems, bei dem stets die Notfallversorgung bzw. der Notfallpatient im Fokus stehen sollte, bedarf einer fundierten, wissenschaftlich begründbaren Grundlage.
Behörden Spiegel: Die vfdb gibt es nunmehr seit 70 Jahren. Aber erst jetzt wurde das Referat zum Rettungsdienst gegründet. Warum hat der Rettungsdienst solange ein „Schattendasein“ gehabt?
Grigorian: Es ist nicht der erste Anlauf interessierter vfdb-Mitglieder, sich fokussiert mit dem Thema Rettungsdienst zu beschäftigen. Es gab vor einigen Jahren bereits einmal einen Versuch, ein Referat zu gründen. Beflügelt wurde die aktuelle Referatsgründung durch die inhaltliche breite Aufstellung der vfdb, die zwar Brandschutz in ihrem Namen trägt, sich aber mittlerweile als Expertennetzwerk für Schutz und Sicherheit versteht, sowie die gegenwärtige Diskussion um die Reform der Notfallversorgung. Die von dem Technisch-Wissenschaftlichen Beirat ins Leben gerufene Adhoc-Gruppe, die sich mit den Reformvorschlägen auseinandergesetzte, hat eine interdisziplinäre Stellungnahme entwickelt und mit ihrer Arbeit einen soliden Grundstein für die weitere Referatsarbeit gesetzt.
Behörden Spiegel: Wo liegen die größten Probleme im Rettungsdienst momentan?
Grigorian: Eine Herausforderung besteht bereits darin, dass wir über „den Rettungsdienst“ sprechen und in der Betrachtung viele verschiedene Perspektiven vermischen: die der Landkreise und kreisfreien Städte als Träger Rettungsdienst, die der Durchführenden, die der Patientinnen und Patienten und auch die der Kostenträger. Gemeinsames Ziel aller ist, die „echten“ Notfallpatienten schnellstmöglich zu versorgen. Dabei stehen die Träger mancherorts vor der Herausforderung, überhaupt noch Durchführende zu finden. Auf einzelne Ausschreibungen gingen in den vergangenen Monaten kein einziges Angebot ein. Die Durchführenden wägen in Anbetracht der knappen Personal- und Materialsituation zunehmend ab, wo sie überhaupt den Rettungsdienst sicher und leistungsfähig erbringen können. Es gibt einzelne Bereiche mit durchaus ausgeglichener Personaldecke, doch die Hilfsorganisationen und die im Rettungsdienst aktiven Feuerwehren verzeichnen vielerorts Personalengpässe. Auszubildende können nicht in dem Maße nachgezogen werden, wie sie im Rettungsdienst benötigt werden und werden nach ihrer Ausbildung dann auch von Bereichen, die selbst nicht ausbilden (z.B. Leitstellen, Luftrettung, Krankenhäuser kleinere Feuerwehren, Werkfeuerwehren, etc.), abgeworben. In manchen Bundesländern wird die Ausbildung der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter noch immer nicht vollumfänglich finanziert, sodass die Durchführenden die Ausbildung zum Teil selbst tragen müssen. Die Liste an Herausforderungen im Rettungsdienst ist lang.
Behörden Spiegel: Welche Lösungen sehen Sie, um den steigenden Einsatzzahlen beim Rettungsdienst Herr zu werden?
Grigorian: Auswertungen zeigen, dass die absolute Anzahl an Notfällen nicht signifikant zugenommen hat, die Anzahl an rettungsdienstlichen Einsätzen jedoch in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist. Die steigenden Einsatzzahlen lassen sich auf unterschiedlichste Ursachen zurückführen. Zum einen sind Lebenserwartung und Durchschnittsalter in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Zum anderen hat sich die ambulante Versorgungslandschaft dahingehend verändert, dass klassische Ansprechbarkeiten wie z.B. der eigene Hausarzt, weniger erreichbar und auch Hausbesuche seltener geworden sind. Dazu kommen gesellschaftliche Entwicklungen, wie z.B. dass Familienstrukturen dezentralisiert werden und Kinder berufsbedingt oder zur Gründung der eigenen Familie seltener im unmittelbaren Umfeld des eigenen Elternhauses wohnen. Eine weitere relevante Ursache ist die insgesamt abnehmende Gesundheitskompetenz. Die Antwort auf dieses Ursachenkonvolut besteht nicht in einer ausschließlichen Stärkung des Rettungsdienstes, denn dieser ist für die allgemeine ambulante Versorgung primäre gar nicht zuständig. Vielmehr bedarf es einer gesamtheitlichen Betrachtung, der Schaffung niederschwelliger Versorgungsmöglichkeiten, um den Versorgungsbedarf auch abzudecken, und einer stärkeren Verzahnung der Versorgungsbereiche. Die wenigsten Bürgerinnen und Bürger rufen den Rettungsdienst aus dem Grund, dass tatsächliche Lebensgefahr vorliegt. Vielen steht jedoch keine andere Form der Hilfe in geeigneter Zeit zur Verfügung oder sie kennen die bestehenden Strukturen nicht, sodass auf den Rettungsdienst als immer erreichbarer Ansprechpartner zurückgegriffen wird. Wir als Gesamtsystem müssen dafür Lösungen bieten.
Behörden Spiegel: In der aktuellen Debatte zur Reform der Notfallversorgung streiten sich Bund, Länder und Kommunen um die Zuständigkeiten. Wird der Rettungsdienst dabei zerrieben?
Grigorian: Der Rettungsdienst profitiert auf jedem Fall nicht von der seit Jahren andauernden Reformdiskussion. Dies zeigt sich daran, dass die Kostenträger in einzelnen Bundesländern in eine „Warteposition“ gehen, auf die Entwicklung des Bundes schauen und lokale Innovationen sowie notwendige Investitionen ausgebremst werden. Die Gefahr der aktuellen Diskussion besteht vor allem darin, dass die Zuständigkeitsdiskussion, die im Wesentlichen auch eine Finanzierungsdiskussion beinhaltet, darin gipfelt, dass der Rettungsdienst vor einer ähnlichen Finanzierungslogik wie die Krankenhäuser stehen wird. Die duale Finanzierung der Krankenhäuser, nämlich die Aufteilung nach Investitions- und Betriebskosten oder nach Vorhalte- und Betriebskosten, wäre für die meisten Rettungsdienstbereiche extrem nachteilhaft und würde die mancherorts prekäre Situation erheblich verschlimmern. Auch ist die Diskussion von ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten geprägt. Gegenden mit sehr fortschrittlich aufgestellten Rettungsdiensten fürchten bei der Diskussion um Vereinheitlichung das Abstellen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und eine Absenkung des lokalen Versorgungsniveaus. Andere Regionen sehen darin die Gefahr, dass lokale, nicht refinanzierbare Kosten entstünden. Letztlich wird die Diskussion auch von der Illusion geprägt, dass wir unabhängig der regionalen Aufstellung einen gleichermaßen hohen Versorgungsstandard mit vergleichbaren Kosten erreichen könnten.
Behörden Spiegel: Ebenso sollen Notfallsanitäter laut der Neunten Stellungnahme Empfehlungen zur „Reform der Notfall- und Akutversorgung Rettungsdienst und Finanzierung“ mehr Befugnisse erhalten. Werden die Sanitäter damit überlastet?
Grigorian: Die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter sind die Schlüsselressource in der präklinischen Notfallmedizin. Mit der Umstellung auf die dreijährige Berufsausbildung haben wir hochprofessionalisierte Retterinnen und Retter geschaffen, die vielerorts ihre Fähigkeiten nicht vollumfänglich ausüben dürfen. Neben dem offensichtlichen Nachteil für die Patienten führt dies auch zu einer systematischen und finanziellen Mehrbelastung. Notärzte werden zum Teil hinzualarmiert, um Aufklärungs- oder Transportverweigerungsgespräche zu führen. Insbesondere bei therapeutischen Maßnahmen, die die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter erlernt haben und beherrschen, führt dies zu einer unnötigen Verzögerung in der Patientenversorgung. Viele Notarzteinsätze sind per tele(notfall)medizinischem Konsil sowie entsprechend ihrer Fähigkeiten ermächtigten Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter abbildbar.
Behörden Spiegel: Vielfach wird die Einführung eines Telenotarztes als ein Heilmittel gesehen. Was ist Ihre Einschätzung dazu?
Grigorian: Telenotarztstrukturen können den systematischen Wandel ergänzen, sind selbst aber nur einer von vielen Bausteinen. In einem „Rettungsdienst von morgen“, in dem die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter ihre Fähigkeiten vollumfänglich auf die Straße bringen können, werden wir weniger Notarzteinsätze haben und weniger physische Notärzte benötigen. Schon aus medizinischen Qualitätssicherungsaspekten werden wir hier Rücksprachemöglichkeiten – z.B. in Form von Telenotarztsystemen – benötigen. Für all jene Tätigkeiten, bei denen der Notarzt nicht physisch vor Ort sein muss, wie z.B. Aufklärungen, Konsultationen, Rücksprachen, Beratungen, wird auf den Telenotarzt zurückgegriffen werden können. Gleichzeitig wird die Rolle des Notarztes als lebensrettender Intensivmediziner wichtiger und die Bedeutung der Luftrettung zunehmen. Hier zeigt sich der notwendige Strukturwandel: der sinkende Bedarf an Präsenzeinsätzen wird dazu führen, dass höherqualifizierte Notärzte abseits der Metropolregionen größere Radien abdecken müssen und andere Fortbewegungsmittel, wie z.B. Hubschrauber, benötigen werden. Wir müssen Innovationen und Fortschritt systematisch denken. Wenn, ohne das bestehende Gesamtsystem anzupassen, lediglich einzelne Bausteine eingeführt werden, werden wir perspektivisch mehr Ressourcen benötigen, ohne den tatsächlichen Mehrwert für die Patientinnen und Patienten, für die Mitarbeitenden und letztlich auch die Kostenträger zu erreichen.