Am 7. Oktober jährte sich zum ersten Mal der terroristische Überfall unter Führung der palästinensischen radikal-islamistischen Terrororganisation Hamas, in dessen Folge eine erneute Spirale der Gewalt begann, deren Ende bis heute nicht abzusehen ist. Die Ereignisse zeitigten ihre Auswirkungen auch in der deutschen Bevölkerung, bei der in den letzten zwölf Monaten eine zunehmende Polarisierung festzustellen war. In Berlin wurde sowohl für Solidarität mit und als auch gegen die Politik von Israel demonstriert. Eine propalästinensische Kundgebung musste abgebrochen werden, nachdem Polizistinnen und Polizisten angegriffen wurden und zu Terror gegen Israel aufgerufen wurde. Auf weiteren Demonstrationen in der Hauptstadt kam es zu versuchten Gewaltaktionen gegen proisraelische Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Antisemitismus in Gesellschaft verankert
Die Aggressionen richten sich nicht allein gegen den Staat Israel. Oft liegen antisemitische Einstellungen zugrunde. Wie weit verbreitet diese sind, zeigt eine Studie zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung Nordrhein-Westfalens unter 1.300 Menschen über 16 Jahren. In der Studie heißt es: „Je nach Erscheinungsform und Kommunikationsmodus weisen acht bis 24 Prozent der Befragten gefestigte antisemitische Einstellungen auf.“ Die Studie unterscheidet zwischen religiösem Antisemitismus, modernem oder „tradiertem“ Antisemitismus und sekundärem oder „holocaustbezogenem“ Antisemitismus.
So glaubt etwa jeder Vierte, der Zentralrat der Juden schüre Unfrieden in Deutschland und gehöre daher abgeschafft. Codierten Aussagen zur jüdischen Einflussnahme in der Welt stimmten fast die Hälfte der Befragten zu. Insbesondere Aussagen zum Holocaust geben Anlass zur Besorgnis. So stimmt etwa jeder Zweite der Aussage zu, dass es „in einer Demokratie [möglich sein] sollte […], den Holocaust kritisch zu hinterfragen“. 43 Prozent können es laut Studie „nachempfinden, dass […] der Holocaust viele Menschen kalt lässt“. 47 Prozent wollen, dass ein „Schlussstrich unter die Vergangenheit“, also den Holocaust, gezogen wird.
Bei 14 Prozent der Befragten konstatiert die Studie „fest verankerte israel-bezogene antisemitische Einstellungen“. Die Studie konnte zudem eine Vermengung von Juden und Jüdinnen mit israelischer Politik feststellen. So stimmten beispielsweise 40 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass ihnen „durch die israelische Politik […] die Juden immer unsympathischer“ werden. Der Aussage „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ stimmen zehn Prozent voll und 28 Prozent eher zu.
Die antisemitischen Einstellungen sind in allen Altersklassen und bei beiden Geschlechtern gleich verbreitet. Allerdings sticht die Gruppe der 16- bis 18-Jährigen, die in der Studie als auffällig israelfeindlich eingestuft werden, deutlich heraus. Die Landbevölkerung hat gegenüber der Großstadtbevölkerung einen signifikant niedrigeren Antisemitismuswert. Der Migrationshintergrund hat keinen signifikanten Einfluss auf die antisemitische Einstellung.
Politik zeigt sich alarmiert
Die Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, zeigte sich besorgt ob der Ergebnisse: „Besonders erschreckend sind die Werte beim holocaustbezogenen Antisemitismus. Dass fast die Hälfte aller Befragten einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen will und über 40 Prozent nachempfinden können, dass der Holocaust viele Menschen kalt lässt, zeigt, welchen Herausforderungen wir uns insbesondere in der Vermittlung der Erinnerungskultur stellen müssen.“ Die weite Verbreitung eines israelfeindlichen Weltbildes unter Jugendlichen sei erschreckend und offenbare mangelndes Wissen im Bereich des Nahostkonflikts und Israels. Man müsse bei der Präventionsarbeit auch die Sozialen Medien einbinden.
Auch NRWs Innenminister Herbert Reul war erschrocken und sorgte sich um die Zahlen zum Antisemitismus unter Jugendlichen: „Unsere Vergangenheit ist Lehrmeister, wenn es darum geht, das Gesagte und auch das Gedachte sehr ernst zu nehmen. Nachdenklich macht mich, dass viele junge Menschen israelfeindliche Ressentiments mit sich herumtragen.“ Polizei und Verfassungsschutz würden immer für die Sicherheit jüdischen Lebens im Land garantieren. „Antisemitismus – der Hass gegen Menschen – geht uns alle an. Jeder muss täglich im Kleinen, im Gespräch mit Freunden, mit Nachbarn und Kollegen, den Mund aufmachen und klare Kante zeigen“, so der Innenminister.
Wissenschaft sieht Bedarf an Präventionsarbeit
Prof. Dr. Heiko Beyer von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zeigte sich beunruhigt: „Unsere Studie zeigt, dass antisemitische Einstellungen in Nordrhein-Westfalen eine beunruhigende Normalität erreicht haben.“ Die Umfrage habe tief verankerte antisemitische Überzeugungen offenbart, resümierte Beyer und fügte an: „Besonders bemerkenswert ist, dass der Anteil bei hochgebildeten und politisch linken Befragten sogar wahrscheinlich noch unterschätzt wird, da diese, wie unsere Umfrage-Experimente nahelegen, dazu neigen, ihre Einstellungen nicht offen zuzugeben.“
Ebenfalls beteiligt an der Studie war Prof. Dr. Lars Rensmann von der Universität Passau, der eine besondere Gefahr in der weiten Verbreitung antisemitischer Einstellungen bei jungen Menschen sieht: „Die Bekämpfung des Antisemitismus bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und eng verknüpft mit dem Schutz der freiheitlichen Demokratie. Antisemitismus hat an Normalität in der Gesellschaft gewonnen und darf nicht weiter zunehmend zur akzeptierten oder tolerierten Norm werden, gerade unter Jugendlichen.“ Daher sollten stattdessen antisemitische Normen gestärkt werden. In den Sozialen Medien sieht er eine besondere Gefahr, dass sich diese zu einer „primären Sozialisationsinstanz“ entwickelt hätten. „Hier bräuchte es aus meiner Sicht einen neuen Gesellschaftsvertrag und entsprechende neue Initiativen der Intervention und Prävention. Zudem sind dringend Bildung und Kompetenzen von Multiplikatoren wie Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern und Lehrerinnen und Lehrern durch institutionelle Maßnahmen zu verbessern“, so Rensmann. Er kritisierte den zunehmenden Einfluss autoritärer Staaten und Verbände auf demokratische Bildung, Institutionen und Öffentlichkeit. Dieser müsse stärker eingeschränkt werden. Zum Ende gibt die Studie dem Leser zwölf Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung von Antisemitismus an die Hand.
Die gesamte Studie finden Sie unter diesem Link.