In den Tagen seit dem 28. Februar mit dem unsäglichen Umgang mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Weißen Haus entwickelten sich in Europa vielfältige Aktivitäten zur weiteren Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen Russlands brutalen Krieg und zur breiten und tiefen Verteidigungsfähigkeit der Europäer in NATO und EU erstens zur Abschreckung/Eindämmung des imperialen Russland und zweitens möglichst zur Schließung der großen Fähigkeitslücken, falls die Trump Administration die amerikanischen Verpflichtungen für die Verteidigung ganz oder teilweise nicht mehr wahrnehmen will.
Besondere Aufmerksamkeit gewinnen die britischen Aktivitäten für eine „Koalition der Willigen“, um eventuelle Feuerpausen oder gar einen Waffenstillstand in der Ukraine abzusichern. Kurz- und mittelfristig ebenso bedeutsam für Deutschland, Europa – und die Ukraine war die Entscheidung, in weniger als drei Wochen in der letzten Sitzungswoche des 20. Bundestages eine Änderung des GG zu verabschieden, wonach Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit oberhalb von 1,0 Prozent des BIP von der Schuldenbremse des GG ausgenommen sind. Und in Brüssel hat gleichzeitig die EU-Kommission Vorschläge erstellt und im Europäischen Rat am 20 März vorgestellt und erörtert, die einen massiven Aufwuchs von Finanzmitteln vorsehen bis zu einer Größenordnung von 800 Mrd. Euro, um bis 2030 die Staaten der EU wieder verteidigungsfähig zu machen: „to rearm Europe“.
Europa ist im Osten mit einem Aggressor konfrontiert, der seine Ziele über die Ukraine hinaus artikuliert hat und der von der zweitgrößten Wirtschaftsmacht China in „strategischer Partnerschaft“ unterstützt wird. Und im Westen will der größte Verbündete Europa ihre Verteidigung zuordnen und mit dem Aggressor einen Deal erreichen. So ist Europa mit seinen beiden Organisationen, der EU und der NATO, mit gravierenden Problemen konfrontiert. In der Nordatlantischen Allianz müssen deshalb die europäischen Staaten ihre Verteidigungsfähigkeit stärken und in der EU müssen sie deutliche Fortschritte in der gemeinsamen Nutzung ihrer Ressourcen für eine Gesamtverteidigung des freien Europa erzielen. Dazu zählt auch die weitergehende Unterstützung der Ukraine. Bei beiden Aufgaben zeigt sich aber, dass bei der Unterstützung der Ukraine nicht nur Ungarn dagegen ist, sondern auch die übrigen Staaten beim jetzigen Gipfel dem Vorschlag für dieses Jahr von 20 bis 40 Mrd nicht gefolgt sind und selbst eine Munitionslieferung von 5 Mrd ist noch keineswegs gesichert. Und beim „Rearm-Programm“ meldet Spanien schon mal Bedenken an, da die EU ja eine Organisation der „soft power“ sei. Das bedeutet, dass schnelles und durchgreifendes Handeln in beiden Bereichen – für Verteidigung und Ukraine-Unterstützung – , eher skeptisch zu beurteilen ist.
Die NATO hat inzwischen ihre regionalen Verteidigungspläne erstellt. Beim NATO-Gipfel in Den Haag Ende Juni sollen auf dieser Grundlage die Regierungschefs die erweiterten Fähigkeitsforderungen insgesamt und an die einzelnen Nationen beschließen. Diese Forderungen zusätzlicher Fähigkeiten und ein enger Zeitrahmen für die Bereitstellung werden auch für Deutschland eine wesentliche Grundlage bilden, die eigene Verteidigungsbereitschaft voranzutreiben. Zur Verwirklichung kann Deutschland künftig die neuen finanziellen Bewegungsmöglichkeiten mit der Öffnung der Schuldenbremse nutzen. Das erforderliche Fähigkeitsprofil wird im Art 109 GG auch für Veränderungen und Aufwuchs bei den zivilen und zivil-militärischen Bereichen der Gesamtverteidigung geöffnet. Für die Bundeswehr lag schon 2018 ein umfassendes Fähigkeitsprofil vor zur Modernisierung, Vollausstattung und Neuausrichtung in Forschung und Technologie, das aber über die letzten sechs Jahre nur unzureichend mit Haushaltsmitteln für moderne Ausrüstung und Waffensysteme sowie Durchbrüche in Forschung und Technologie vorangebracht worden ist. Der jüngste Jahresbericht der Wehrbeauftragten macht die weiter zu schließenden Flanken unserer Bundeswehr offenkundig, trotz der Aufträge aus dem 100 Mrd. Sondervermögen. Erstaunlich ist, dass CDU/CSU und SPD nur bis zu 1% des BIP die Verteidigungsausgaben aus dem jährlichen Haushalt bestreiten wollen. Das bleibt deutlich unter dem „IST“, das im Haushalt 2024 und 2025 veranschlagt ist. Das schafft der möglichen Koalition im Rahmen des geltenden Finanzplanes 2025-2029 jährlich einen Freiraum von ca. 7 – 10 Mrd. entweder für andere, ggf. konsumtive Ausgaben oder zur Konsolidierung des HH-Entwurfs 2025 und folgende.
Für die Bundeswehr ergeben sich vielfältige Auswirkungen. Jetzt können laufende Vorhaben, die auf NATO-Anforderungen und eigenen konzeptionellen Grundlagen wie den VPR basieren, über die gesamte Dauer der Entwicklung und Produktion bis zur Auslieferung an die Truppe kontinuierlich vorangetrieben werden, ohne im jährlichen Haushaltsprozess der Kürzung oder Schiebung, ja Streichung ausgesetzt zu sein. Die Allianz wird beim Gipfeltreffen in Den Haag weitreichende zusätzliche Fähigkeiten der Nationen für eine glaubwürdige Abschreckung durch wirksame Verteidigungsoperationen beschließen. Diese werden nicht nur die volle Einsatzbereitschaft, sondern auch die Durchhaltefähigkeit betreffen. Das wird nicht nur erhebliche Finanzmittel verlangen, sondern eine engere Zusammenarbeit von Streitkräften und Industrie erfordern, die zu schnelleren Ergebnissen führt als mit bisherigen Verfahren.
Die in den Artikel 109 GG aufgenommenen Ausgabenbereiche des Bundes für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie für die Nachrichtendienste und für den Schutz der informationstechnischen Systeme führen dazu, dass deren Mittel insgesamt schon außerhalb der 1% Grenze fallen, da schon der jetzige EP 14 oberhalb dieser Grenze liegt. Umso mehr kommt es darauf an, genau zu prüfen, welche Fähigkeiten gebraucht werden. Dazu sind die Vorgaben in den Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung (RRGV) vom Juni 2024 und die Zwischenergebnisse für den „Operationsplan Deutschland“ ebenso zu nutzen, wie die in NATO und EU vereinbarten Maßnahmen zur Erhöhung der Resilienz aller Mitgliedstaaten. Dabei kommt den Anforderungen, die Deutschland als „Drehscheibe“ der Bündnisverteidigung erfüllen muss, besondere Bedeutung zu.
Mit drei Jahren Erfahrung der brutalen Aggression Russlands gegen die Ukraine haben die Grünen die Öffnung der Schuldenregel auch „für die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“ durchgesetzt. Es muss sich zeigen, ob Regierung und politische Mitte der Gesellschaft diese Öffnung mit Blick auf den Ukrainekrieg überzeugend erläutern und nutzen. Es muss klar werden, dass jede Unterstützung der Ukraine für eine erfolgreiche Verteidigung gegen Russland nicht nur der Wiederherstellung des Völkerrechts dient, sondern Art und Umfang der Abschreckung Russlands vor einem weiteren aggressiven Vorgehen beeinflusst. Denn eine Niederlage der Ukraine wird die Maßnahmen in NATO und EU zur Abschreckung Russlands vor weiterer Aggression um ein Mehrfaches der Unterstützung für eine erfolgreiche Ukraine übersteigen.
Fasst man die Stränge künftiger Entwicklung für die Sicherheit eines freien Europas zusammen, sind vier Elemente für den Erfolg maßgeblich:
Erstens: das aggressive Russland muss aufgehalten und vor weiteren Aggressionen, sei es mit kinetischen oder nicht-kinetischen Mitteln, wirksam abgeschreckt werden.
Zweitens: eine erfolgreiche Ukraine ist mit starken Streitkräften auszustatten, die nicht nur Russland von weiterer Aggression abhalten, sondern auch die Abwehrkraft des freien Europas stärken.
Drittens: dies ist umso wichtiger, falls die jetzige US Administration daran festhält, seine Bindung an die Sicherheit Europas einzuschränken oder gar aufzugeben.
Viertens: ist eine größere Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit des freien Europa (mit Europas NATO-MS und der EU sowie Partnern) in jedem Fall gefordert: einmal um sich gegen Russland zu behaupten und zum anderen Amerika zu überzeugen, dass ein starkes Europa einen wesentlichen Pfeiler seiner nationalen Sicherheit bildet. Es muss klar sein, dass Europa sich nicht von Amerika abwendet, sondern im ungünstigen Fall sich auch ohne den Rückhalt über den Atlantik gegen das imperiale Russland behaupten kann und wird.
Der Autor dieses Gastbeitrags ist Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen.