Rekordkrankenstände und neue Wege der Krankschreibung werfen kontinuierlich Fragen zum Umgang mit zweifelhaften Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf. Der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (§ 5 Abs. 1 S. 2 EFZG) kann erschüttert werden, indem der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Zweifel an der Erkrankung ergeben.
Lange Zeit waren die sehr hohen Hürden für Arbeitgeber kaum zu überwinden und bei der Vorlage des „gelben Scheins“ blieb bei jeder noch so abenteuerlichen Geschichte nur Resignation. Die Rechtsprechung hat hierzu in den letzten 12-18 Monaten aber eine erhebliche Dynamik aufgenommen und viele Parameter neu justiert. Wann (berechtigte) Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angebracht sind und wie mit ihnen umzugehen ist, soll im Folgenden zusammengefasst werden.
Anlass für Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit
Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit können zunächst dadurch begründet werden, dass eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau die nach einer Kündigung verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken. Das gilt sowohl im Zusammenhang mit einer arbeitgeberseitigen Kündigung (vgl. BAG, Urteil vom 13. Dezember 2023 – 5 AZR 137/23) als auch bei einer Eigenkündigung durch Beschäftigte (vgl. BAG, Urteil vom 18. September 2024 – 5 AZR 29/24). Maßgeblich für die Erschütterung des Beweiswerts sei dabei im Fall der Eigenkündigung durch Beschäftigte, dass die Krankschreibung in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Kündigung vorgelegt werde. Dieser bestehe nicht nur bei einer „zeitgleichen“ Übergabe, sondern auch bei der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am nächsten Arbeitstag nach der Kündigung (vgl. BAG, Urteil vom 18. September 2024 – 5 AZR 29/24). Im zugrundeliegenden Fall lag zwischen diesen Zeitpunkten beispielsweise nur ein für den Kläger arbeitsfreies Wochenende.
Außerdem sind Zweifel angebracht, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne vorausgegangene Untersuchung ausgestellt wurde. In einem Fall noch weit vor der Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung entschied das BAG, dass die Arbeitsunfähigkeit mit einer Bescheinigung, die ohne vorherige Untersuchung ausgestellt wurde, in der Regel nicht bewiesen werden könne (vgl. BAG, Urteil vom 11. August 1976 – 5 AZR 422/75). Kein Beweiswert hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch dann, wenn sie online ohne jeden Arztkontakt, etwa über den bekannten Anbieter au-schein.de, bestellt wird (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. August 2020 – 3 Sa 87/20).
Ferner ist das Verhalten der Beschäftigten in den Blick zu nehmen. Die Gesamtbetrachtung der Geschehnisse vor Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, ihr Zeitraum und anschließende Aktivitäten können den Beweiswert erschüttern. In der Rechtsprechung finden sich hierzu zahlreiche Beispiele: Berechtigte Zweifel wurden etwa angenommen, als sich mehrere Beschäftigte für die Dauer eines vom Arbeitgeber widerrufenen Betriebsurlaubs krankmeldeten (vgl. LAG Nürnberg, Urteil vom 27. Juli 2021 – 7 Sa 359/20). In einem weiteren Fall meldete sich der Kläger krank, nachdem am vorangegangenen Arbeitstag sein Urlaubsantrag abgelehnt und er zur Überarbeitung einer Präsentation aufgefordert worden war (vgl. LAG Niedersachsen, Urteil vom 31. Mai 2024 – 14 Sa 618/23). Auch hier hielt das Gericht den Beweiswert für erschüttert.
Die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung legt es nahe, die Rechtsprechung des BAG zur Erschütterung des Beweiswerts auch auf unwillkommene Weisungen zu übertragen. Weitere denkbare Konstellationen sind z.B. eine vorherige Abmahnung, ein Aufhebungsvertragsangebot oder eine verweigerte Gehaltserhöhung.
Außerdem ist ein Augenmerk auf die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses zu richten. Diese ist für die Arbeitsvertragsparteien zwar nicht verbindlich, jedoch können Verstöße gegen einzelne Regelungen den Beweiswert einer Krankschreibung erschüttern (vgl. BAG, Urteil vom 28. Juni 2023 – 5 AZR 335/22). Dies betrifft solche Regelungen, die sich auf medizinische Erkenntnisse zur sicheren Feststellbarkeit der Arbeitsunfähigkeit beziehen (§§ 4, 5 AU-RL). Kritisch zu prüfen ist zudem, ob die besonderen Vorgaben für eine Arbeitsunfähigkeit via Telefon oder Video eingehalten (siehe hierzu: https://kuettner-rechtsanwaelte.de/blog/telefonische-krankschreibung-und-kinderkrankmeldung-neue-herausforderungen-fuer-unternehmen).
Keine Entgeltfortzahlung bei einheitlichem Verhinderungsfall
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch auf sechs Wochen begrenzt ist (§ 3 Abs. 1 S. 1 EZFG). Dies gilt auch dann, wenn noch während des laufenden Arbeitsunfähigkeitszeitraums eine weitere Krankheit auftritt (sog. Einheit des Verhinderungsfalls). In der Praxis häufig sind die Fälle, in denen sich an einen sechswöchigen Krankheitszeitraum unmittelbar eine weitere vermeintliche „Erstbescheinigung“ anschließt, die auf einem neuen Grundleiden basieren soll. Ein sog. einheitlicher Verhinderungsfall, der keine weitere Entgeltfortzahlung auslöst, ist nach der Rechtsprechung des BAG aber regelmäßig indiziert, wenn die bescheinigten Arbeitsverhinderungen zeitlich unmittelbar aufeinanderfolgen oder der Arbeitnehmer in der zwischen ihnen liegenden Zeit – etwa wegen eines arbeitsfreien Wochenendes – keine Arbeitsleistung zu erbringen hatte (vgl. BAG, Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18).
Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Ausland
Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus dem Nicht-EU-Ausland hat nach einer aktuellen BAG-Entscheidung grundsätzlich den gleichen Beweiswert wie eine inländische Bescheinigung, sofern zwischen einer bloßen „Erkrankung“ und einer zu Arbeitsunfähigkeit führenden Krankheit differenziert wird (vgl. BAG, Urteil vom 15. Januar 2025 – 5 AZR 284/24). Auch hier könne der Beweiswert infolge einer Gesamtwürdigung der Umstände erschüttert sein. Im Fall des BAG hatte der Kläger an seinem vorletzten Urlaubstag eine Krankschreibung aus Tunesien vorgelegt. Diese bescheinigte seine Arbeitsunfähigkeit für insgesamt 24 Tage. Am selben Tag kaufte er sich ein Fährticket zur Heimreise in 23 Tagen, die er dann mit dem Auto antrat. Das BAG nahm hier ernsthafte Zweifel am Beweiswert an (vgl. BAG, Urteil vom 15. Januar 2025 – 5 AZR 284/24), zumal es bereits die vierte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Zusammenhang mit einem Urlaub des Klägers war.
Rechtsfolgen bei Erschütterung des Beweiswerts
Angebrachte Zweifel führen zu einer Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Arbeitgeber ist dringend zu empfehlen in diesen Fällen die Entgeltfortzahlung einzustellen. In der Folge haben Beschäftigte dann konkrete Tatsachen darzulegen und ggf. zu beweisen, aus denen auf eine Erkrankung geschlossen werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 18. September 2024 – 5 AZR 29/24). Dies setze einen substantiierten Vortrag etwa zu der konkreten Erkrankung, damit verbundenen Einschränkungen und Medikamenteneinnahmen voraus. Das gilt in der Praxis häufig nicht.
Das Vortäuschen einer ärztlichen Untersuchung kann ggf. auch eine fristlose Kündigung rechtfertigen. Das BAG hat dies im Fall eines „bestellten“ Impfunfähigkeitsattests bejaht (vgl. BAG, Urteil vom 14. Dezember 2023 – 2 AZR 55/23).
Die Vorlage eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses kann gemäß §§ 277 ff. StGB schließlich auch strafrechtliche Konsequenzen haben.
Die Rechtsprechungsentwicklung ist jedenfalls aus Arbeitgebersicht zu begrüßen. Es empfiehlt sich, Arbeitsunfähigkeitszeiträume der Beschäftigten genauer zu erfassen. In Zweifelsfällen sollte die Entgeltfortzahlung einbehalten und die Auseinandersetzung nicht gescheut werden. Hinsichtlich der zahlreichen, teils unseriösen Onlinebieter sollte die Belegschaft informiert und sensibilisiert werden. Wer solche Angebote nutzt, riskiert eine fristlose Kündigung und macht sich ggf. sogar strafbar.
Trotz der Dynamik und erkennbaren Tendenz der Rechtsprechung ist von Übereifer abzuraten: So kann beispielsweise ein vom Arbeitgeber veranlasster Detektiveinsatz zur Aufklärung einer vermutet vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit Schadensersatzansprüche nach Art. 82 DSGVO begründen (vgl. BAG, Urteil vom 25. Juli 2024 – 8 AZR 225/23).
Der Autor dieses Gastbeitrages ist Dr. Michel Hoffmann, LL.B. von der Küttner Rechtsanwälte Partnergesellschaft





