Viele Tarifverträge knüpfen die Gewährung von Überstundenzuschlägen an die sog. Vollzeitquote an (vgl. z.B. § 8 Abs. 1 S. 2 lit. a TVöD/TV-L i.V.m. § 7 Abs. 7 TVöD/TV-L). Zuschläge werden also erst ab Überschreiten der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten gezahlt. Teilzeitbeschäftigte müssen daher – unabhängig von der individuell vereinbarten Arbeitszeit – die gleiche Anzahl an Arbeitsstunden wie Vollzeitbeschäftigte erbringen, um Überstundenzuschläge zu erhalten.
Für Überstunden unterhalb der Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten werden mithin keine Überstundenzuschläge gezahlt, während Überstunden eines Vollzeitbeschäftigten bereits ab der ersten Überstunde mit Zuschlägen vergütet werden.
Das Bundesarbeitsgericht hat nun die Rechte Teilzeitbeschäftigter gestärkt (Urteil vom 5. Dezember 2024 – 8 AZR 370/20).
Sachverhalt
Die Klägerin ist als Pflegekraft in Teilzeit bei dem Beklagten, einem ambulanten Dialyseanbieter, beschäftigt. Ihr Arbeitszeitkonto wies in der Monatsübersicht für März 2018 ein Arbeitszeitguthaben von 129 Stunden und 24 Minuten aus. Der Manteltarifvertrag sieht vor, dass Überstundenzuschläge erst ab Überschreitung der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten gezahlt werden. Aus diesem Grund wurden der Klägerin keine Überstundenzuschläge ausbezahlt.
Vor Gericht begehrte sie die Vornahme einer Zeitgutschrift für ihre Überstundenzuschläge in Höhe von 38 Stunden und 49 Minuten sowie die Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht gab ihr teilweise statt. Das Bundesarbeitsgericht legte dem EuGH vor (EuGH, Urteil vom 29. Juli 2024 – C-184/22 und 185/22, KfH Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation) und entschied jetzt, dass der Anspruch auf Zeitgutschrift besteht. Dem Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gab es in geringer Höhe statt.
Überstundenzuschläge ab der ersten Überstunde auch für Teilzeitbeschäftigte
Teilzeitbeschäftigte haben einen Anspruch auf Gewährung von Überstundenzuschlägen ab der ersten Überstunde. Dies gilt zumindest dann, wenn eine entsprechende tarifvertragliche Regelung für Vollzeitbeschäftigte besteht.
1. Kein Anspruch aus § 611a Abs. 2 i.V.m. Tarifvertrag
Der Anspruch ergebe sich jedoch nicht aus § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. den einschlägigen tarifvertraglichen Regelungen. Der eindeutige Wortlaut sehe einen Anspruch auf Überstundenzuschläge erst ab dem Zeitpunkt der Überschreitung der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten vor. Dies sei bei Teilzeitbeschäftigten, die lediglich ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit überschritten, gerade nicht der Fall. Der eindeutige Wortlaut verhindere auch eine Auslegung dahin, dass die Grenze für den Bezug der Überstundenzuschläge proportional zur individuell geschuldeten Arbeitszeit herabgesetzt werden müsse. Insoweit sei der Anknüpfungspunkt für die Leistung eindeutig definiert.
2. Anspruch aus § 4 Abs. 1 TzBfG i.V.m. §§ 134, 612 Abs. 2 BGB
Der Anspruch ergebe sich jedoch aus § 4 Abs. 1 TzBfG i.V.m. §§ 134, 612 Abs. 2 BGB. Die tarifvertraglichen Regelungen zur Gewährung von Überstundenzuschlägen seien unter Berücksichtigung der sich aus dem Vorabentscheidungsverfahren des EuGH ergebenden Auslegung des einschlägigen Unionsrechts nach § 134 BGB insoweit nichtig, als die Gewährung an das Überschreiten der Vollzeitarbeitszeit anknüpfe. Hierin liege eine Verletzung des Diskriminierungsverbots von Teilzeitbeschäftigten aus § 4 Abs. 1 TzBfG, sowie des darin verankerten pro-rata-temporis-Grundsatzes. Teilzeitbeschäftigte müssten die gleiche Arbeitszeit wie Vollzeitbeschäftigte erbringen, um den Zuschlag zu erhalten, ohne dass es auf ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit ankomme. Zwar würden sie insoweit gleichbehandelt, als die Vergütung bis zum Erreichen der regelmäßigen Arbeitszeit eines Vollzeitbeschäftigten der Vergütung desselben entspreche. Die Überstundenzuschläge als eigenständiger Entgeltbestandteil seien jedoch isoliert zu betrachten. In der Festsetzung einer einheitlichen Schwelle für die Gewährung von Überstundenzuschlägen liege eine Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten. Diese erreichten die notwendige Arbeitszeit, ab der ein Überstundenzuschlag gewährt wird, nicht oder mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit als Vollzeitbeschäftigte.
Diese Benachteiligung werde auch nicht durch das Vorliegen eines sachlichen Grundes gerechtfertigt. Ein solcher liege insbesondere nicht in dem Ziel, den Arbeitgeber von der Anordnung von Überstunden abzuhalten oder eine Benachteiligung von Vollzeitbeschäftigten zu verhindern. Der Anspruch von Teilzeitbeschäftigten gem. § 134 BGB i.V.m. § 612 Abs. 2 BGB auf Gewährung der Überstundenzuschläge bestehe entsprechend der üblichen Vergütung für vergleichbare Vollzeitbeschäftigte (sog. „Anpassung nach oben“).
Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG
Daneben könne auch ein Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG bestehen.
§ 15 AGG
„(2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. “
Dies sei der Fall, wenn die tarifvertraglichen Regelungen bezüglich der Überstundenzuschläge eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts i.S.v. § 3 Abs. 2 AGG darstellen. Dafür müsse ein signifikant höherer Anteil Arbeitnehmerinnen benachteiligt werden. Im konkreten Fall beschäftigte der Beklagte 90 Prozent Frauen in Teilzeitarbeit, sodass die Voraussetzungen gegeben seien. Es sei dabei unbeachtlich, dass Frauen auch unter den Vollzeitbeschäftigten die Mehrheit stellten. Die mittelbare Benachteiligung stelle einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot aus § 7 Abs. 1 AGG dar, für den kein sachlicher Grund gegeben sei. Vorliegend greife die Haftungsprivilegierung des § 15 Abs. 3 AGG nicht, da sie in unionsrechtskonformer einschränkender Auslegung die Anwendung von Haustarifverträgen nicht erfasse. Das Bundesarbeitsgericht setzte die Höhe des Anspruchs auf 250 Euro fest. Dies sei unter Berücksichtigung des erlittenen Schadens und der Vielzahl der betroffenen Arbeitnehmenden verhältnismäßig.
Praxishinweise
Die Rechtsfrage scheint geklärt. Nach Befassung des EuGH hat der 8. Senat des Bundesarbeitsgerichtes entschieden. Die Teilzeitkraft, welche im Umfang der tariflichen Wochenarbeitszeit tätig ist, bekommt für die Stunden, welche ihre individuelle Arbeitszeit übersteigen, Mehrarbeitszuschläge. Sie bekommt daher im Ergebnis erheblich mehr Vergütung als eine Vollzeitkraft, welche die gleiche Arbeit leistet.
Jüngst hat das Bundesverfassungsgericht die Tarifautonomie gestärkt und ist insbesondere der vom Bundesarbeitsgericht angenommenen „Anpassung nach oben“ entgegengetreten (Beschluss vom 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21). Die Entscheidung betraf tarifvertragliche Nachtarbeitszuschläge. Selbst wenn man eine Verletzung des Gleichheitssatzes annehme, folge aus Art. 9 Abs. 3 GG eine „Korrekturkompetenz“ der Tarifvertragsparteien. Ob und wie sich diese neuere Entwicklung in Bezug auf die hier in Rede stehende Thematik auswirken wird, ist eine offene Frage.
Spannend ist auch die Thematik der Entschädigung. Beschäftigt der Arbeitgeber einen signifikant höheren Anteil Arbeitnehmerinnen in Teilzeitbeschäftigung (und dies wird häufig der Fall sein), droht ein Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen mittelbarer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts. Ein Anspruch scheidet aus, wenn die Haftungsprivilegierung des § 15 Abs. 3 AGG greift. Hiernach hat der Arbeitgeber bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten.
Für öffentliche Arbeitgeber werden in der Regel Verbandtarifverträge und nur in seltenen Fällen Haustarifverträge gelten. Spätestens nach der nun vorliegenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes stellt sich deshalb die Frage nach der groben Fährlässigkeit, wenn Teilzeitbeschäftigten die Zuschläge verwehrt werden.
Der Autor dieses Gastbeitrages ist Dr. Herbert Hertzfeld von der Küttner Rechtsanwälte Partnergesellschaft.