Die Infrastruktur ist wie der Boden, auf dem wir stehen: Wir bemerken ihn erst, wenn er unter unseren Füßen nachgibt.
In der EU hat sich die Infrastruktur in den letzten Monaten zur obersten politischen Priorität entwickelt. Effekte von der derzeitigen Energiekrise und den Auswirkungen der russischen Aggression gegen die Ukraine bis hin zu den Rekordtemperaturen im Sommer sowie Sturzfluten und Erdbeben lassen die Rufe nach einem verstärkten koordinierten europäischen Vorgehen laut werden und die Bedeutung einer zukunftssicheren Infrastruktur hat sich vor unseren Augen deutlich herauskristallisiert.
Nach der Lektüre des jüngsten Berichts „United in Science“ (Vereint in der Wissenschaft) wird deutlich, dass sich die im Europäischen Grünen Deal formulierte Vision, Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen, entscheidend von unserer Fähigkeit abhängt, nachhaltige Infrastruktur zu schaffen.
Der Ausbau der Digitalisierung steht hierbei nicht in Konkurrenz zum Erreichen von grünen ökologischen Standards; vielmehr ist ein digitaler Zwilling der Infrastruktur die Voraussetzung für die rasche und effektive Umsetzung der ambitionierten Projekte.
Die EU-Mitgliedstaaten stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen, wenn es um die Digitalisierung der Infrastruktur geht. Eine kurze Prüfung des Deutschen Aufbau- und Resilienzplans zeigt, dass der Ausdruck „digitaler Wandel/Digitalisierung“ zur Beschreibung vieler verschiedener Arten von Projekten verwendet wird: die Investition in Cloud-Technologie und -Dienste der nächsten Generation, die Erhöhung der digitalen Verfügbarkeit von öffentlichen Dienstleistungen auf Bundes- und Regionalebene, die Erstellung der ersten nationalen Online-Bildungsplattform und Initiativen wie die Unterstützung von klimafreundlichen Sanierungs- und Bauarbeiten oder Anforderungen der Fahrzeugindustrie, um automatisiertes Fahren und Produktionsverbesserungen zu ermöglichen.
In keinem anderen Bereich ist diese Dichotomie zwischen „grün“ und „digital“ relevanter als im Zusammenhang mit dem REpowerEU-Plan, der von der Europäischen Kommission im Mai 2022 veröffentlicht wurde. Dieser wurde als umfassendes Maßnahmenpaket angekündigt, um die Abhängigkeit der EU von russischen fossilen Brennstoffen zu beenden und den Übergang der EU zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Der Plan ist in seiner Ambition und seinem Umfang einmalig. In Deutschland ist die Umsetzung des Plans angesichts der ehemals hohen Abhängigkeit von russischem Erdgas noch dringender.
Gleichzeitig hat die Kommission die Mitgliedstaaten jedoch von der Vorgabe befreit, mindestens 20 % der Ausgaben für das neue, auf Energie fokussierte Kapitel für Digitalisierung aufzuwenden. Die Mitgliedstaaten werden dieses nun eigenverantwortlich in ihre jeweiligen nationalen Pläne aufnehmen.
Die aktuelle Krise erklärt zwar, warum die Kommission versucht hat, die Umsetzungsanforderungen an die Mitgliedstaaten zu senken, und EU-Beamte haben sich bemüht, die nationalen Anstrengungen im Bereich der Digitalisierung öffentlich zu fördern, dennoch besteht ein reales Risiko, dass die Notwendigkeit zum schnellen Handeln zu einer verpassten Gelegenheit führt, die europäische Energieinfrastruktur zu modernisieren.
Nehmen wir zum Beispiel digitale Zwillinge der Infrastruktur für ein nachhaltiges Stromnetz – eine realistische, dynamische digitale Darstellung einer physischen Anlage, eines Prozesses oder eines Systems, welche die physische Infrastrukturanlage und die virtuelle Welt miteinander verbindet und die Arbeit synchronisiert, um die richtigen Daten zur richtigen Zeit über den gesamten Lebenszyklus der Anlage zu nutzen. Durch die nahtlose Zusammenarbeit zwischen verschiedenen ingenieurtechnischen Disziplinen und die exponentiell bessere Sichtbarkeit der Ergebnisse durch die Leistung von KI und maschinellem Lernen führen digitale Zwillinge zu besseren Entscheidungen – unabhängig davon, ob es sich um ein Stromnetz, eine Fernwärmeversorgung oder ein Abwassersystem handelt, welches saniert werden muss.
Wenn solche digitalen Zwillinge der Infrastruktur auf Offenheit, Interoperabilität und robusten Cybersicherheitsgrundsätzen basieren, können die politischen Entscheidungsträger die Energieinfrastruktur aus einer ganzheitlichen Perspektive verwalten, um wichtige EU-Ziele wie Energiesicherheit, Resilienz und Diversifizierung zu erreichen. Die digitalen Technologien werden die Umsetzung des Grundsatzes „Energieeffizienz an erster Stelle“ in allen Wirtschaftssektoren ermöglichen.
Dieser „Ökosystem“-Ansatz für Energie ist der Schlüssel für die Zukunft Deutschlands und der EU. Es ist der Unterschied zwischen der isolierten Betrachtung statischer Anlagen, losgelöst von ihrem Kontext und ihrer Umgebung, und der kollektiven Betrachtung von Energiebedarf und -ergebnissen. Durch die Digitalisierung wird die EU über die Diskussion des Energiebedarfs einzelner Mitgliedstaaten hinausgehen und eine Politik betreiben, bei der die gesamte EU schnell und geschlossen handelt.
Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Umsetzung von REpowerEU durch die Mitgliedstaaten die Einführung von Spitzentechnologien wie digitalen Zwillingen fördert. Die Infrastrukturtechnologie hat sich seit CAD (computer-aided design – computerunterstütztes Entwerfen) und BIM (Building Information Modelling – Gebäudedatenmodellierung) weiterentwickelt und es ist wichtig, dass die EU-Richtlinie mit dieser Entwicklung Schritt hält.
Die EU ist weltweit führend, wenn es um Zielsetzung und langfristige Visionen im Bereich der Infrastruktur geht. Und gerade in der Infrastruktur – den oft unsichtbaren Bereichen, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft am Laufen halten – werden die größten und unmittelbarsten positiven Auswirkungen der Digitalisierung zu spüren sein.
Anfang Februar 2023 hat die EU nochmals nachgeschärft und die eingangs erwähnten Programme um den Industrieplan für den Grünen Deal ergänzt, um die Wettbewerbsfähigkeit von Europas Netto-Null-Industrie zu verbessern und den raschen Übergang zur Klimaneutralität zu unterstützen. Der Plan zielt darauf ab, ein günstigeres Umfeld für den Ausbau der Produktionskapazitäten der EU für die klimaneutralen Technologien und Produkte zu schaffen. Er wird getragen von vier Säulen: einem berechenbaren und vereinfachten Regulierungsumfeld, der Beschleunigung des Zugangs zu Finanzmitteln, der Verbesserung der Qualifikationen und dem offenen Handel für widerstandsfähige Lieferketten.
Darauf basierend ist es an der Zeit, den Aufbau einer EU-Infrastruktur der nächsten Generation zu beschleunigen. Aufgrund seiner Lage in der Mitte Europas, seiner Größe und seiner Wirtschaftskraft wird Deutschland mit seiner Vorreiterrolle in der Digitalisierung von Infrastruktur und innovativer Produktionskapazitäten dazu beitragen, die EU in ihrer wahrhaftigsten Form aus dieser Krise zu führen: offen, widerstandsfähig und vor allem geeint.
Dieser Beitrag ist eine Anzeige von Bentley Systems. Die Autoren sind Bernardo Matos, Director EU Government Relations, und Peter Rummel, Director of Public Policy and Advocacy Europe.