Staatenlosigkeit stellt nicht nur Betroffene, sondern auch Behörden vor Herausforderungen. Um ein praxistaugliches Verfahren zu entwickeln, führen wir derzeit Interviews mit Mitarbeitenden aus Ausländerbehörden, Standesämtern und Einbürgerungsstellen. Ihre Erfahrungen sind entscheidend für die Gestaltung eines wirksamen Verfahrens. Teilen Sie Ihre Perspektive und gestalten Sie die Lösung aktiv mit!
Ende 2024 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt 123.530 Menschen ohne eine anerkannte Staatsangehörigkeit. Davon sind 28.815 offiziell als staatenlos anerkannt, während 94.715 mit “ungeklärte Staatsangehörigkeit” geführt werden. Mehr als ein Drittel der Betroffenen sind Minderjährige, über ein Viertel wurde in Deutschland geboren. Bis heute existiert jedoch kein standardisiertes Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit – was sowohl für Staatenlose als auch für Beamte eine erhebliche Unsicherheit bedeutet.
Staatenlosigkeit ist nicht ausschließlich das Ergebnis individueller Lebensläufe, sondern entsteht häufig durch komplexe rechtliche und administrative Schnittstellen. Fehlende Verfahrensstandards, uneinheitliche Zuständigkeiten und restriktive gesetzliche Regelungen erschweren nicht nur den Alltag der Betroffenen, sondern stellen auch Beamte in Ausländerbehörden, Standesämtern oder Einbürgerungsstellen vor erhebliche Herausforderungen. Internationale Standards und Empfehlungen, etwa von UNHCR und zivilgesellschaftlichen Organisationen, fordern seit Jahren ein klar geregeltes Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit. Während mehrere europäische Länder entsprechende Instrumente eingeführt haben, steht Deutschland noch am Anfang.
Staatenlosigkeit schränkt faktisch Zugang zu grundlegenden Rechten ein
Staatenlosigkeit bedeutet, dass für die betroffene Person kein nationales Recht uneingeschränkt gilt. Reisefreiheit, Bildung, Berufszugang oder Gesundheitsversorgung sind häufig eingeschränkt oder nicht zugänglich. Fehlende Dokumente erschweren oder verhindern Auslandsreisen, Ausbildungs- oder Studienplätze. Dabei ist Staatenlosigkeit kein einheitlicher Status, der mit stets gleichen Einschränkungen und Erfahrungen einhergeht. Vielmehr hängen die damit verbundenen konkreten Rechtseinschränkungen und Auswirkungen von weiteren Faktoren ab, zum Beispiel davon, ob die Staatenlosigkeit offiziell anerkannt wurde oder nicht, und ob die Anerkennung der Staatenlosigkeit mit der Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose – und somit einem Ausweisdokument – einhergeht.
Während die anerkannte Staatenlosigkeit ein Rechtsstatus ist und mit gewissen Rechten einhergeht, stellt die ungeklärte Staatsangehörigkeit lediglich einen Arbeitsbegriff dar. Obwohl dieser Arbeitsbegriff temporär verwendet werden soll, erstreckt sich diese Kategorisierung oft über Jahre, Jahrzehnte oder sogar Generationen. Eine staatenlose Person berichtet: “Ich wusste, in meinem Ausweis stand, ich darf Deutschland nicht verlassen, aber da stand nichts dazu, dass ich keine Beamtin werden durfte, dass ich keine hohen Berufschancen bekomme oder überhaupt faire Berufschancen.” Weitere Einschränkungen umfassen sowohl alltägliche Hürden wie das Eröffnen eines Bankkontos, das Kaufen von SIM-Karten, Online-Registrierungen, Unterschreiben von Mietverträgen, als auch grundlegende Lebensentscheidungen wie Familien- und Zukunftsplanungen.
Fehlende Standards führen zu uneinheitlicher Verwaltungspraxis und Rechtsunsicherheit
Das Fehlen eines eigenen Verfahrens zur Feststellung von Staatenlosigkeit führt zu erheblichen Unterschieden: Je nach Bundesland, Behörde oder sogar Sachbearbeiter variieren Anforderungen, Bewertungen von Dokumenten und Entscheidungen zur Anerkennung von Staatenlosigkeit. In einigen Fällen wird Staatenlosigkeit anerkannt, in anderen mit nahezu identischer Beweislage nicht. Betroffene berichten von langjährigen Verfahren, wechselnden Auflagen und widersprüchlichen Einschätzungen.
Eine in Deutschland geborene staatenlose Person, die im Kindesalter einen jugoslawischen Pass hatte und nun als Erwachsene immer noch mit dem Status der ungeklärten Staatsangehörigkeit kämpft, beschreibt: “Ich war dann bei jemand anderem, und der sagte mir: ‘Sie müssen sich jetzt darum kümmern, dass Sie einen Pass haben.’ Die eine sagt mir dann aber: ‘Sie müssen jetzt eigentlich lieber nachweisen, dass Sie nirgendwo Staatsangehörige sind.’ Das sind ja zwei komplett verschiedene Ansätze.” Diese Arten der Unklarheit erzeugen nicht nur Frustration, sondern auch Rechtsunsicherheit – für Antragsteller wie für Verwaltungsmitarbeiter. Ein standardisiertes, rechtsstaatliches Verfahren würde hier die Entscheidungspraxis stützen, die Verwaltung professionalisieren und Rechtsunsicherheit reduzieren.
Ihre Perspektive zählt!
Staatenlosigkeit führt bereits im Kindesalter zu einem Gefühl der Ausgeschlossenheit. Hinzu kommen diskriminierende Erfahrungen, die mit Staatenlosigkeit häufig einhergehen. Eine Person beschreibt: “Es spielen mehrere Sachen herein, dass die meisten staatenlosen Leute entweder Flüchtlinge oder Minderheiten sind, die global international nicht anerkannt werden.” Eine weitere Person erklärt: “Mein Problem teile ich auch mit niemandem, weil ich einfach Angst davor habe, diskriminiert zu werden.” Gesetzlich festgeschriebene Verfahrensstandards bieten hier einen entscheidenden strukturellen Hebel: Sie schaffen klare Handlungsoptionen für Behörden und reduzieren die Gefahr diskriminierender Behandlung. Um ein praxisnahes Verfahren zu entwickeln, führt Statefree e.V. Interviews mit Beamten aus Ausländerbehörden, Standesämtern und Einbürgerungsstellen durch. Ziel ist, Ihre Erfahrungen im Umgang mit Staatenlosigkeit und ungeklärter Staatsangehörigkeit systematisch zu erfassen und in die Entwicklung eines digitalen Feststellungsverfahrens einzubeziehen.
Ihre Perspektive ist entscheidend – wir laden Sie herzlich dazu ein, sich einzubringen. Bei Interesse oder Rückfragen erreichen Sie uns unter margarida@statefree.world oder http://bit.ly/4npvgXc. Diese Veröffentlichung wurde von der Europäischen Union kofinanziert. Für den Inhalt ist ausschließlich Statefree e.V. verantwortlich und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten der Europäischen Union wider.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Margarida Farinha. Sie ist Co-Gründerin von Statefree e. V. und leitet dort ein Forschungsprojekt zum behördlichen Umgang mit Staatenlosigkeit.