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Ein langer Weg

Stellen Sie sich vor, Sie möchten mit dem Zug verreisen, haben entsprechend große Gepäckstücke und z. B. einen Kinderwagen dabei und müssen – wie das bei der Deutschen Bahn schon mal passieren kann – an einem kleineren Bahnhof umsteigen. Und dann stellen Sie fest: kein Aufzug weit und breit. Und die Rolltreppen (wenn überhaupt vorhanden) sind außer Betrieb.

Was für eine Person ohne Einschränkungen nach einer lästigen Unannehmlichkeit klingt, macht für viele Menschen in Deutschland das Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fast unmöglich. Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderung, welcher Natur auch immer, sind schnell auf der Verliererseite. Rampen für Rollstuhlnutzende müssen häufi g vorab angemeldet werden – und selbst mit Anmeldung ist das keine Garantie für das Vorhandensein der Rampe. Entweder, weil das Personal am Zielbahnhof fehlt, um die Rampe zu platzieren, oder weil der Lockführer schon mal vergisst, die Rampe am gewünschten Zielbahnhof auszuklappen. Auch technisches Versagen spiele hier oft eine Rolle, betonen die beiden Selbstvertreterinnen Claudia Franke und Gracia Schade. Franke ist erste Vorsitzende im Rat behinderter Menschen der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. und Schade Inklusionsmanagerin der Verbandsgemeinde Nieder-Olm. Beide Frauen sind Rollstuhlnutzerinnen, die sich als selbst Betroffene für Barrierefreiheit einsetzen. Beide wollen sich nicht mehr auf den ÖPNV verlassen müssen.

Doch nicht nur bei der Nutzung des ÖPNV seien Barrieren ein Problem. Häufig stießen betroffene Personen auch im Gesundheitssystem auf schwer zugängliche Strukturen. Bspw. kann sich der Gynäkologiebesuch schwierig gestalten, wenn allein der Gynäkologenstuhl zur Hürde wird. Natürlich gibt es ein paar Praxen, die hier eine barrierefreie Lösung anbieten, diese sind aber rar gesät. Und auch technische Neuerungen, die das Leben erleichtern sollen, bringen Ausgrenzungspotenzial mit. Viele Menschen mit Behinderung täten sich schwer mit der Nutzung von Selbstbedienungskassen oder dem Scannen von QR-Codes, erklärt Schade.

Viele kleine Neuerungen, die sich aber immer weiter durchsetzen, grenzen unbewusst viele Menschen aus, ob Seniorinnen und Senioren oder Menschen mit Behinderung. „Ich würde mir wünschen, Barrierefreiheit und Brandschutz hätten den gleichen Stellenwert, dann würden wir an vielen Stellen nicht wieder diskutieren müssen. Aber sie schließen sich manchmal gegenseitig aus“, so Schade. Sie verweist z. B. auf nicht elektrische Brandschutztüren. Zudem: Das System nachträglich anzupassen, bringt immer mehr Kosten mit sich, als wenn Barrierefreiheit von vornherein mitgedacht wird. Das weiß Regine Laroche, die Leiterin des Referats „Bundesinitiative Barrierefreiheit“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Daher sei es wichtig, dass angehende Stadtplanerinnen und -planer sowie werdende Architektinnen und Architekten direkt in ihrer Ausbildung schon mit den besonderen Bedarfen verschiedener Menschen mit Behinderung vertraut gemacht würden, führt Laroche aus. Franke ergänzt, dass es hierbei besonders wichtig sei, in den direkten Austausch mit Selbstvertretenden zu gehen, damit die unterschiedlichen Bedarfe nachvollziehbar dargestellt werden könnten.

Realitätscheck

Aber wie fortgeschritten ist die Barrierefreiheit in Kommunen wirklich? In einem dreijährigen Kooperationsprojekt des Zentrums für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen und der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) wurde eine Bestandsaufnahme der Maßnahmen für Inklusions- und Barrierefrei von deutschen Kommunen durchgeführt. Der Hintergrund: Bereits seit 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland gesetzlich verankert. Kommunen müssen ausreichend barrierefreie Wohnungen bereitstellen, Ämter und Schulen müssen für alle, wirklich alle, frei zugänglich sein und außerdem flexible Unterstützungsdienste anbieten, um ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Wie das im Juni erschienene zentrale Ergebnispapier des bundesweiten Forschungsprojekts zeigt, haben jedoch gerade einmal 41 Prozent der untersuchten Städte und Kreise mit über 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern einen strukturierten Planungsprozess begonnen oder abgeschlossen. Dabei seien Selbst- und Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderung häufig der Anstoß solcher Planungen. Oft seien sie an der Planungsphase beteiligt, aber selten an den Entscheidungsprozessen. Es fehle insgesamt an Verbindlichkeit und eine stärkere Verschränkung mit anderen Planungsbereichen wie Verkehr, Bauen oder Schulen sei wünschenswert. Dabei seien politischer Rückhalt und Ressourcen für den Planungsprozess wichtige Erfolgsfaktoren, diese seien häufig aber nicht ausreichend vorhanden.

Ein Gegenentwurf

Trotz dieser Ergebnisse gibt es natürlich auch positive Beispiele. Beim Stichwort ÖPNV berichtet Dr. Daria Lutschnikova, Beauftragte für Menschen mit Behinderung der Stadt Leipzig, von Schulungen für Fahrerinnen und Fahrer der Leipziger Verkehrsbetriebe durch Selbstvertretende mit unterschiedlichen Bedarfen. Diese Schulungen würden euphorisch aufgenommen. Gerade der Perspektivwechsel helfe den Fahrenden ungemein. „Auch die Community selbst ist sehr begeistert und kann da wirklich eigene Bedarfe sehr einfach und niederschwellig mitteilen“, ergänzt Dr. Lutschnikova. Zusätzlich habe die Stadt ein Gremium, bei dem sowohl Selbstvertretende als auch Kolleginnen und Kollegen aus dem Mobilitäts- und Tiefbauamt sowie von den Verkehrsbetrieben vertreten seien. Auch hier geht es um Sensibilisierung für das Thema, gerade bei neuen Bauplanungen. Selbst beider Abnahme bestimmter Objekte seien Menschen mit Behinderung mit von der Partie.

Letztendlich muss in Deutschland noch viel mehr passieren, damit alle Menschen mitgenommen werden. Denn Barrierefreiheit von vornherein mitzudenken, bedarf zwar einer Umstellung, es schränkt aber niemanden ein – im Gegenteil, es kommt allen zugute. Nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Senioren, Personen aus bildungsferneren Schichten und anderssprachige Menschen profitiert sowohl von physischer als auch technischer Barrierefreiheit. Und auch wenn es für einen jungen, gesunden Menschen aktuell schwer nachvollziehbar sein kann – spätestens im Alter sind wir froh, wenn wir alle Strukturen angepasst haben.

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