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StartVerteidigungDie Sicherheitslage im neuen Europa

Die Sicherheitslage im neuen Europa

Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine muss die Sicherheitsarchitektur in Europa neu gedacht werden. An welchen Leitlinien sollte sie sich orientieren?

Kersti Kaljulaid, die ehemalige Präsidentin Estlands, stellt die Frage, wann Russland nach dem Ukrainekrieg seine vormalige militärische Stärke wiederherstellen kann. Nach ihrer Ansicht und Konsultation verschiedener Expertinnen und Experten erwartet sie dies innerhalb einer Zeitspanne von höchstens fünf Jahren. Das Russland anstrebt, seine vorherige militärische Potenz wiederzuerlangen, daran besteht aus ihrer Sicht kein Zweifel. Diese Meinung sei in den baltischen und osteuropäischen Staaten verbreitet. General Christopher Gerard Cavoli, Kommandeur der US-amerikanischen Streitkräfte in Europa, widerspricht dieser These. Denn Russlands militärische Verluste gestalteten sich unterschiedlich. Während man bei den Landstreitkräften nennenswerte Verluste bei Mensch und Material habe hinnehmen müssen, seien andere Elemente der russischen Streitkräfte von Krieg wenig bis gar nicht gezeichnet. Es gehe also ungebrochen Bedrohung vom größten Flächenstaat der Erde aus. Vor dieser Gefahr gälte es sich zu wappen.

Bedrohungslage in Deutschland und Europa erkannt

Diese Erkenntnis könne auch in Deutschland langsam Fuß fassen, diagnostiziert der deutsche Botschafter in Polen, Thomas Bagger. Vor dem Angriffskrieg habe man sich aufgrund der eingebetteten Lage inmitten von Europa in sicherheitspolitischer Sorglosigkeit gewiegt. Das Russland die Ukraine überfallen könnte, erachtet man als ökonomischen Selbstmord und folgerichtig als unwahrscheinlich. Ergebnis dieser laxen Haltung seien ökonomische Verbindungen und Abhängigkeiten gewesen, die man retrospektiv als Fehler bezeichnen müsse. Aus diesem Fehler habe man jedoch Konsequenzen gezogen. Die Bereitschaft in die militärische Transformation zu investieren sei hoch, auch wenn der Prozess mehr Zeit in Anspruch nähme, als dies von den osteuropäischen Partnern gewünscht werde.

Pierre Vimont, ehemaliger Geschäftsführender Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes, beobachtet einen ähnlichen Mentalitätswandel auch auf europäischer Ebene. Er berichtet von einer Kommission aus der Sahel-Region, die im Jahr 2011 die Europäische Union um die Lieferung von Waffen bat, um Dschihadisten im Land zu bekämpfen. Damals hätte man diese Anliegen abgeschmettert. Mittlerweile existierten Geldtöpfe, welche genau für diesen Zweck bestimmt seien. Ähnlich verhalte es sich bei der Stärkung der lokalen Rüstungsindustrie. Während vor wenigen Jahren Unternehmen noch ihren Defence-Bereich wegrationalisieren mussten, habe die Europäische Kommission mittlerweile Mittel aus dem Struktur- und Investitionsfund dieser Industrie zugewiesen.    

Die Sorgen bewegen sich weiterhin auf einem unterschiedlichen Niveau

Zwar erkennt auch Nathalie Tocci, Direktorin der Denkfabrik „Istituto Affari Internazionali“, ein pan-europäisches Bewusstsein über eine von Russland ausgehende Bedrohung, wie weit aber dieses Bedrohungsgefühl reiche, gestalte sich in den Ländern allerdings höchst unterschiedlich. Dennoch erwartet sie eine gewisse Konstanz der aus der russischen Invasion erwachsenen Eintracht in Europa. Grund hierfür sei schlicht, dass ökonomische Anhängigkeiten abgebaut wurden und eine klare Haltung gegen Russland nicht länger mit ökonomischen Kosten verbunden sei.

Die neue verteidigungspolitische Rolle Europas

Zur Sorge gereiche hingegen vielmehr die zunehmende militärische Abhängigkeit Europas gegenüber den USA. Zwar unternehme man zurzeit einiges, das sich vertiefende Abhängigkeitsverhältnis verdeutliche aber gerade, wie viel verteidigungspolitisches Engagement und Investment man in den letzten Jahrzehnten versäumt habe. „Dafür zahlen wir jetzt die Konsequenzen“, stellt Tocci fest. Aus Vimonts Perspektive erwachse aus den größeren Budgets für die Verteidigung auch mehr Verantwortung. Darüber hinaus sei mit dem Paradigmenwechsel die Frage der NATO- und EU-Erweiterung zurückgekehrt, erklärt Tocci. Eine Erweiterung, die – wie der ehemalige Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes feststellt – unter anderen Vorzeichen als die vorherigen erfolgt. Während 2004 der Mitgliederzuwachs in Zeiten des Friedens erfolgte, sei die Gegenwart von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Deshalb gälte es neue Handlungsstrategien und eine eigene außenpolitische Vision zu entwickeln.

Wie groß ist die westliche Familie?

Dies inkludiere auch die Frage, ob man die Ukraine als Teil der transatlantischen Familie begreife, erklärt Daniel Fried. Der ehemalige Assistant Secretary of State for European and Eurasian Affairs führt weiter aus: „Die Ukraine hat am Meydan eindeutig klargemacht, wo sie sich selbst verortet.“ Nachdem Angriff habe der Westen geschlossener und konsequenter reagiert, als Putin dies für möglich gehalten hätte. Es gälte aber sich zu fragen, wohin das gemeinsame westliche Engagement führen soll. Fried gibt eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Er strebt die Integration der Ukraine in die „westliche Familie“ an. Dies sei nicht einfach, aber der einzige Weg, der zu einem sicheren und freien Europa führe. Alle Argumente gegen einen NATO-Beitritt seien in dieser Form bereits gegen den Beitritt Polens und der Baltischen Staaten vorgebracht worden.

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