Tief einatmen, für einen Moment innehalten, ausatmen. Viele Methoden und erlernbare Angewohnheiten können dabei helfen, im Alltag Stress zu reduzieren und die eigene Resilienz auszubauen. Damit das gelingt, muss jede und jeder für sich die Maßnahmen finden, die ihr oder ihm am besten helfen. Behörden können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dabei aktiv unterstützen – und sollten es dringend tun, denn: Von einem gesunden Umgang mit Stresssituationen profitieren die Mitarbeitergesundheit und die gesamte Organisation.
„Ich bin ruhiger geworden, dankbarer“, sagt Reinhard Renter. Als er sich vor einigen Jahren in einer beruflichen Extremsituation wiederfand, beschäftigten ihn plötzlich Fragen wie: „Wie kann ich damit umgehen? Wie kann ich nachts wieder schlafen?“ Der Polizeipräsident a. D. begab sich auf die Suche nach Antworten und machte es sich zur Aufgabe, auch andere Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit Stresssituationen zu unterstützen. 2020 entwickelte er am Polizeipräsidium Offenburg das Achtsamkeitsprogramm „Erleichtere Dein Leben durch Achtsamkeit“ mit, das sich unter den Mitarbeitenden immer größerer Beliebtheit erfreut und im Verlauf noch erweitert wurde.
Die Effekte sprechen für sich. Mitarbeitende fühlen sich fröhlicher und zufriedener, sind konzentrierter und gleichzeitig kreativer. Auch das Miteinander im Team und der Einsatz für die Dienststelle haben sich verbessert. Stress und Überforderung hingegen sind laut Umfragen unter den Mitarbeitenden, die am Achtsamkeitsprogramm teilgenommen haben, deutlich zurückgegangen.
Ohne Zwang
Zu den Kernelementen des Programms gehören unter anderem ein zweitägiges Achtsamkeitsseminar in einem Kloster, ein vielfältiges Angebot an Meditationen und Entspannungsmethoden und ein achtwöchiges MBSR-Seminar (Mindfulness-Based Stress Reduction). Außerdem wurde ein „Raum für mich“ als Ort zur persönlichen Rückbesinnung eingerichtet.
Zu Beginn von Führungsbesprechungen gibt es die Möglichkeit, in einer Meditationsminute zur Ruhe zu kommen. „Die Besprechungsleiter können das nutzen, es ist aber nichts vorgeschrieben“, betont Renter. Die Veränderung müsse von der jeweiligen Führungsperson gewollt sein, Vorgaben „von oben“ gebe es dazu nicht. Nicht jede Methode sei für jeden geeignet und jeder brauche seine Zeit. „Ich war bei der Entwicklung des Programms dabei und habe alle Punkte selbst durchlaufen“, berichtet Renter. Neben der täglichen Meditation ist das Dankbarkeitstagebuch ein Element des Achtsamkeitsprogramms, das er sehr zu schätzen gelernt hat: „Ich schlafe dadurch abends anders ein.“ Das Tagebuch soll helfen, die eigene Wahrnehmung zu lenken und den Blick zum Dienstschluss noch mal auf die positiven Geschehnisse des Tages zu richten.
Besondere Verantwortung
Es sei Aufgabe der Führungskräfte, eine gute Atmosphäre für die Mitarbeitenden zu schaffen, in der sich jeder wertgeschätzt fühlt und so fröhlich zum Dienst kommt, wie er später wieder geht, erklärt der Polizeipräsident a. D. Essenziell dafür sei die emotionale Intelligenz der Führungskräfte: Empathie, die Fähigkeit zuzuhören, Kommunikation auf Augenhöhe. Auch sie kann im Rahmen des Achtsamkeitsprogramms in Form eines Aufbauseminars trainiert werden. Das Achtsamkeitsprogramm des Offenburger Polizeipräsidiums ist inspiriert von ähnlichen Konzepten großer Wirtschaftsunternehmen. Die Grundstruktur vorhandener Programme sei im Wesentlichen übernommen worden, erklärt Renter. Beispiele und Sprache habe man an den Berufsalltag bei der Polizei angepasst. Mitmachen könne jeder – vom Facility Manager bis hin zum Polizeipräsidenten.
Ein wichtiges Grundprinzip, das zum Erfolg des Programms beiträgt: Es wird niemand von außen in die Organisation geholt, der etwas von Achtsamkeit erzählt und dann wieder geht. Engagierte Mitarbeitende können sich ausbilden lassen, um dann das Gelernte an die eigenen Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben. Man baut auf bekannte Gesichter, die vor Ort sind und jederzeit für Fragen zur Verfügung stehen. Das Konzept aus Offenburg kann nicht nur als Vorbild für andere Polizeidienststellen dienen, es lässt sich problemlos an alle Behördenstrukturen anpassen, betont Renter. „Ob ich in einer Kommune arbeite oder Landrat bin, das Konzept funktioniert bei allen gleich – aber die Behördenleitung muss es wollen.“
Nachwuchskräfte stärken
Matthäus Fandrejewski unterstützt es, wenn Behörden sich für das Wohlbefinden ihrer Beschäftigten einsetzen. „Achtsamkeit und psychische Gesundheit gehören zusammen“, betont der Vorsitzende der DBB Jugend. Zahlreiche Studien zeichneten ein klares Bild: Die psychische Gesundheit von jungen Menschen könne wesentlich besser sein. „Für uns als Jugend-Gewerkschaft ist das natürlich ein großes Thema. Denn der Fachkräftemangel geht oft zulasten junger Arbeitnehmender, die in die Bresche springen.“
Aktuellen Erhebungen zufolge fehlten dem Öffentlichen Dienst mehr als 570.000 Beschäftigte, um allen Aufgaben gerecht werden zu können. Diese Lücke lasse sich nicht von heute auf morgen schließen. Deshalb seien Fortbildungen und Seminare, die Achtsamkeit sowie den Umgang mit Druck und Stress in den Fokus rückten, ein sinnvolles Instrument, so Fandrejewski.
Bedarfe erkennen
Bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) sind Angebote zur Stärkung der Resilienz der Mitarbeitenden ein fester Baustein des eigenen Gesundheitsmanagements. Mithilfe einer anonymisierten Mitarbeitendenbefragung wurde vor zwei Jahren die Gefährdungslage psychischer Belastungen am Arbeitsplatz in den Blick genommen. Die Ergebnisse wurden genutzt, um dezentral passende Maßnahmen – von Vorträgen über Online-Seminare bis hin zu Workshops – zu planen. Mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden hat laut Befragung bereits Angebote zur Gesundheitsförderung in der eigenen Dienststelle genutzt. Am zweithäufigsten waren das Angebote zur Stressbewältigung.
Mitarbeitende der BA haben die Möglichkeit, an spezifischen Resilienz-Weiterbildungsangeboten oder Online-Trainings teilzunehmen. Gerade im Bereich der Führungskräfteentwicklung ist das Thema fester Bestandteil vieler Bildungsangebote. Bei Bedarf und auf eigenen Wunsch hin steht den Mitarbeitenden zudem der Berufspsychologische Service für Psychologische Beratungen zur Verfügung – sowohl wenn es um die Bewältigung von beruflichen Herausforderungen geht als auch bei privaten Anliegen.
Eine Selbstverständlichkeit
Die BA und das Polizeipräsidium Offenburg gehen bei der Förderung von Achtsamkeit und Resilienz mit gutem Beispiel voran. Nachahmen ist laut Renter explizit erwünscht. Er sieht sich als Impulsgeber, möchte mit seiner Arbeit etwas in Bewegung setzen. Wenn Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bundesländern ihr Interesse am Offenburger Achtsamkeitsprogramm signalisieren – vielleicht sogar über ein ähnliches Vorhaben nachdenken –, ist das für ihn ein Schritt in die richtige Richtung. Doch er weiß auch: „Das darf man nicht auf der Rennbahn machen.“ Trotzdem geht er fest davon aus, dass Achtsamkeit in Zukunft ein wichtiger, selbstverständlicher Bestandteil der Arbeitswelt sein wird. Schon an den Hochschulen könnte man Achtsamkeit und Resilienz mit in den Lehrplan aufnehmen, um Nachwuchskräfte von Beginn an zu stärken.
Für Rückfragen zum Achtsamkeitsprogramm des Polizeipräsidiums Offenburg wenden Sie sich gerne an Herrn Renter unter Reinhard.renter@t-online.de oder telefonisch unter 0151 16202366.