Auf kommunaler Ebene konkretisieren und überlagern sich zahlreiche gesamtgesellschaftliche Herausforderungen (z. B. Energie, Klima, Migration) und es manifestieren und multiplizieren sich viele staatliche Vollzugsaufgaben (Kfz, Wohngeld) bei gleichzeitig schwindenden personellen und fi nanziellen Spielräumen. Um sich aus diesem Dilemma zu befreien, braucht es vor allem auf kommunaler Ebene ein radikales Neudenken des IT-Einsatzes.
Die Gründung des Prosoz-Instituts durch die Stadt Herten im Jahr 1989 gilt in Deutschland als ein Meilenstein der Verwaltungsinformatik auf kommunaler Ebene. Die innovative Kommune aus dem Ruhrgebiet lieferte mit dem mutigen Gründungsprojekt ein anschauliches Beispiel für die aktive Gestaltung notwendiger Transformationsprozesse in einer schon damals vom Strukturwandel erheblich betroffenen Region.
Der „Mut“ der Stadt bestand nicht nur darin, ein zuvor über fünf Jahre laufendes Forschungsprojekt in ein auf Dauer angelegtes kommunales Softwareunternehmen zu überführen, sondern auch darin, dieses von Anfang an konsequent bundesweit interkommunal auszurichten – in gewisser Hinsicht ein früher Vorläufer des heutigen „EfA-Prinzips“. Auf dieser Grundlage gehört die Prosoz Herten GmbH heute mit ihren ca. 500 Beschäftigten in vielen Verwaltungsbereichen zu den Marktführern in der kommunalen IT-Landschaft.
Aber Prosoz gilt auch als der „Prototyp bzw. Dinosaurier“ kommunaler Fachverfahren. Diese Bezeichnungen deuten bereits an, dass sich die kommunale IT (wie auch die gesamte Verwaltungsinformatik) aktuell in einem grundlegenden Transformationsprozess befindet. Um zu erläutern, was diesen Transformationsprozess ausmacht und welche Entwicklungen in den kommenden Jahren zu erwarten sind, lohnt ein kurzer Blick in die bisherige Entwicklung der kommunalen IT.
Werkzeugorientierte und prozessorientierte IT
Nach der Phase der Großrechner, die auf kommunaler Ebene meist nur für wenige Verwaltungsbereiche relevant war (Personal, Finanzen, Statistik) galt vor 35 Jahren die Frage nach der bestmöglichen IT-Unterstützung bestimmter Aufgaben als der wesentliche Treiber der Verwaltungsinformatik. Genau wie im Forschungsprojekt der Stadt Herten, wo es um die Frage ging, ob sich damalige handelsübliche Computer (wie der legendäre Commodore C 64) für die digitale Bearbeitung/Berechnung von Sozialhilfe eignen. In dieser Phase zwischen 1985 und 2000 entstanden so in relativ kurzer Zeit eine Vielzahl entsprechender „IT-Werkzeuge“, die sich aufgrund gleicher oder ähnlicher gesetzlicher Anforderungen als kommunale Fachverfahren auch bundesweit schnell verbreiteten. Anfang der 2000er hatten zahlreiche der insgesamt über 10.000 deutschen Kommunen bereits über 100 solcher IT-Verfahren im Einsatz. Der zuverlässige und sichere Betrieb dieser Fachverfahren stellte die Kommunen damals vor bedeutende Herausforderungen und beförderte die Gründung, Fusion bzw. Neuausrichtung kommunaler Rechenzentren. Um die Jahrtausendwende verschob sich der Fokus im Bereich des kommunalen IT-Einsatzes dann zunehmend weg von der bestmöglichen IT-Unterstützung einzelner Aufgaben durch einzelne Fachverfahren hin zu einer möglichst durchgängigen IT-Unterstützung von „geschäftlichen Prozessen im Zusammenhang mit Regieren und Verwalten“. Ab jetzt ging es stärker um E-Government, E-Akte sowie die aufwendige Kopplung einer Vielzahl kommunaler IT-Systeme sowie deren interkommunalen und föderalen Verbund über standardisierte Schnittstellen (XÖV).
Digitalisieren statt elektrifizieren
Die Erfolge dieser „prozessorientierten“ Ausrichtung des IT-Einsatzes sind überschaubar und beförderten in der Zusammenschau sogar den digitalen Entwicklungsrückstand der deutschen Verwaltung. Spätestens bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes wurde deutlich, dass sich die Potenziale der neuen digitalen Technologien nicht dadurch erschließen lassen, alle Verwaltungen einfach gesetzlich dazu zu verpflichten, alle ihre Verwaltungsleistungen auch digital anzubieten. Auch wenn der OZG-Umsetzungsprozess einige sehr positive Entwicklungen initiiert bzw. befördert hat – z.B. hinsichtlich der verwaltungs- bzw. ebenenübergreifenden Zusammenarbeit auf der Basis neuer Arbeitsformen und Methoden –, haben wir im Ergebnis überwiegend leider nur eine sehr aufwendige Digitalisierung von bestehenden Prozessen in bestehenden Strukturen erlebt. Eine solche „Elektrifizierung“ bestehender Strukturen neigt dazu (ähnlich wie bei zahlreichen E-Akte- Projekten), genaue diese bestehenden Strukturen sogar noch zu festigen, zu „zementierten“. Notwendig ist aber genau das Gegenteil: die gezielte Erschließung der organisatorischen Gestaltungspotenziale im gesamten föderalen System. Dazu braucht es, ausgehend von den politisch bzw. rechtlich angestrebten Wirkungen, ein radikales Neudenken der Arbeitsteilung von Bund, Ländern und Kommunen – auf der Grundlage einer neuen, ebenfalls konsequent wirkungsorientiert ausgerichteten, datenzentrierten bzw. plattformbasierten Verwaltungsinformatik. Es sollte nicht mehr darum gehen, bestehende Prozesse in bestehenden Strukturen digital zu optimieren, sondern für Bürgerinnen und Bürger sowie für die Wirtschaft bestmögliche Ergebnisse bei geringstmöglichen Kosten zu erreichen.
Auf dem Weg zur datenzentrierten Verwaltung von morgen
Die krisenbedingten IT-Projekte der jüngsten Vergangenheit zeigen, wie das gehen kann. Sowohl bei der Beantragung und Auszahlung der pandemiebedingten Überbrückungshilfen für die Wirtschaft als auch bei der ähnlich gelagerten Auszahlung der „200-Euro-Sonderzahlung“für Studierende zur Abfederung der kriegsbedingt gestiegenen Energiekosten kamen leistungsfähige Low-Code- und Plattformtechnologien zum Einsatz, auf deren Grundlage neue Formen einer vollständig digitalen Zusammenarbeit einer Vielzahl von Institutionen gelungen ist. Beide Projekte sind in gewisser Weise Prototypen einer gänzlich neuen Art von „Fachanwendung“ auf der Grundlage kooperativ nutzbarer Cloud-Anwendungen. Langfristig könnten (und sollten) solche plattformbasierten Anwendungen über einen App-Store öffentlicher IT-Anwendungen erreichbar sein und entsprechend schnell Verbreitung finden. Auf kommunaler Ebene könnte dabei dem Handlungsfeld Smart City/ Smart Region eine Vorreiterrolle zukommen. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Hessen, wo es dem Land im Verbund mit seinem interkommunalen IT-Dienstleister ekom21 gelungen ist, eine cloudbasierte kooperative Dateninfrastruktur aufzubauen (cosma21), auf der innovative Lösungen nicht nur modular aufgebaut und datenzentriert miteinander vernetzt, sondern auch sehr einfach interkommunal mit- und nachgenutzt bzw. skaliert werden können. Eine ähnliche Entwicklung braucht es auch für die digitale Verwaltung, um auf dieser Grundlage kommunale Aufgaben schrittweise höher zu automatisieren und gleichzeitig die Voraussetzungen für die Etablierung neuer datenzentrierter Arbeits- und Organisationsformen zu etablieren.
Autor des Gastbeitrags ist Marco Brunzel, Dozent für Verwaltungsinformatik an der HWR Berlin, der Uni
Speyer sowie der Hochschule Meißen





 
                                    
