Mit Löschraketen gegen Flugzeugbrände – das war mal eine Zukunftsidee. Heute gibt es Ideen von vorausfliegenden Drohnen. Jochen Stein, Chef der Bonner Feuerwehr, spricht mit Bennet Biskup-Klawon über den Spagat von Innovationen und bestehenden Strukturen und über die Einsatzkräfte von morgen.
Behörden Spiegel: War früher tatsächlich alles besser?
Jochen Stein: Wir neigen oft dazu zu sagen: „Früher war das Gras grüner.“ Doch das stimmt so nicht. Jede Zeit bringt ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Wir neigen dazu, Dinge zu vergessen. Ich möchte das Wort „verdrängen“ nicht benutzen, aber Vergessen ist eine natürliche Schutzfunktion.
Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass man gerade in der Gesellschaft Katastrophen und deren Auswirkungen vergisst, an die man sich unbedingt erinnern sollte. Doch damit umzugehen, ist kein Widerspruch. Unsere Aufgabe als Katastrophenschutzbehörden ist es, die Menschen regelmäßig daran zu erinnern, sich vorzubereiten. Aber ohne Prävention geht es nicht. Eine Erkenntnis aus Jahrzehnten in diesem Bereich ist: Was man präventiv nicht geregelt hat, kann man in akuten Gefahrensituationen meist nicht mehr ausgleichen.
Viele glauben heute, die aktuelle Lage – sei es der Krieg in der Ukraine oder die Klimakrise – sei schlimmer als alles zuvor. Aber wenn wir 80 Jahre zurückblicken und uns den Ersten oder Zweiten Weltkrieg ansehen, dann war die Lage damals mit Sicherheit dramatischer. Daran sollten wir uns erinnern: Wir leben seit vielen Jahrzehnten im Frieden. Die aktuelle Sorge vor Krieg ist verständlich, und wir bereiten uns darauf vor. Aber zu glauben, dass es früher besser war – das halte ich für falsch.
Behörden Spiegel: Wie haben Sie sich persönlich am Anfang Ihrer Karriere die Zukunft der Feuerwehrarbeit vorgestellt?
Stein: Meine Wahrnehmung damals war ambivalent – zwischen Strukturen, die ich als verkrustet und reformbedürftig empfand. Zu einer Hälfte lag das sicherlich daran, dass es tatsächlich so war. Zur anderen Hälfte aber auch an meiner Jugend. Es ist völlig normal, dass man in jungen Jahren Dinge kritischer sieht und oft die Hintergründe für bestimmte Zusammenhänge noch nicht kennt. Dafür braucht es einfach ein paar Jahre Erfahrung – und das ist völlig natürlich.
Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite gab es schon damals innovative Ansätze. Ich erinnere mich an eine Interschutz-Messe in den 1980er-Jahren. Dort stellte die Feuerwehr Frankfurt ein Fahrzeug mit einer Seilbahnkabine zur Menschenrettung aus Hochhäusern vor. Der damalige Leiter hatte sogar eine Vision von Löschraketen, die auf Flughäfen abgefeuert werden sollten, um ihr Löschmittel über brennenden Flugzeugen zu verteilen. Das war faszinierend, aber auch sehr weit weg von der Realität – spannend, aber eben unrealistisch.
Dazwischen schien mir eine große Lücke zu klaffen. Mein damaliges Bild von der Feuerwehr war geprägt von diesem Kontrast: einerseits der aktuelle Stand, andererseits diese visionären, aber schwer umsetzbaren Zukunftsideen.
Behörden Spiegel: Vor welchen Herausforderungen stehen die Feuerwehren aktuell?
Stein: Es gab und gibt immer Szenarien, in denen Feuerwehren überfordert sind. Das war im Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht anders als heute in der Ukraine. Auch Waldbrände sind kein neues Phänomen – sie gab es schon immer. Die Vorstellung, dass früher alles besser war, trifft hier nicht zu. Der Unterschied heute ist, dass wir durch die Medien ein unmittelbares Bild der Lage bekommen.
Das hat Vor- und Nachteile: Wir müssen weniger spekulieren und haben mehr Fakten zur Verfügung, aber gleichzeitig kann die mediale Aufmerksamkeit auch zu einemverzerrten Blick auf die Situation führen.
Feuerwehren stoßen weltweit an ihre Grenzen – und keine Feuerwehr der Welt könnte manche Katastrophe komplett alleine bewältigen. Es wäre falsch zu glauben, dass wir in Deutschland es grundsätzlich besser könnten.
Doch wenn man speziell auf Deutschland schaut, sehe ich die Lage als insgesamt stabil. Die Mitgliederzahlen der Feuerwehren sind deutschlandweit weiterhin gut. Natürlich gibt es örtlich Herausforderungen, etwa bei der Personalgewinnung oder der Ausstattung, aber das föderale System hat den Vorteil, dass nicht alle Feuerwehren gleichermaßen betroffen sind. Viele können jene unterstützen, die gerade mit Problemen kämpfen – sei es beim Personal, bei Fahrzeugen oder bei Unterkünften. Das bedeutet nicht, dass es keine strukturellen Herausforderungen gibt. Doch einen allgemeinen Abgesang kann ich nicht erkennen. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.
Behörden Spiegel: Wie kann man sich im laufenden Tagesgeschäft und einer krisenhaften Zeit trotzdem weiterentwickeln?
Stein: Ich glaube, so schlimm wie 2021 war es in den letzten Jahren nicht mehr. Wir hatten zwei weitgehend katastrophenfreie Jahre – zumindest hier in Deutschland und speziell in Bonn. Natürlich gab es örtlich begrenzte Überschwemmungen und andere kleinere Szenarien, aber große flächendeckende Katastrophen blieben aus. Das sieht in anderen Teilen Europas oder weltweit natürlich anders aus. In Spanien, etwa in der Region um Sevilla, gab es schwere Starkregenereignisse. Ebenso kam es in verschiedenen Teilen Europas zu heftigen Waldbränden und Überschwemmungen. Doch wenn man nur auf Deutschland blickt, war die Lage zuletzt vergleichsweise ruhig.
Das ist auch typisch für das Katastrophenmanagement: Es gibt ruhigere Phasen, die man gezielt nutzen kann, um sich besser auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten. 2021 war in dieser Hinsicht eine extreme Ausnahme. Trotzdem konnten wir auch damals wichtige Entwicklungen vorantreiben. Unsere Waldbrandeinheit beispielsweise wurde bereits vor Corona gegründet, aber ihre Ausbildung und die ersten Einsätze fanden während der Pandemie statt. Das zeigt, dass selbst in Krisenzeiten Anpassung und Weiterentwicklung möglich sind.
Natürlich ist es immer eine Herausforderung, sich als Behörde oder als Gesellschaft mitten in einer Krise zu transformieren. Da braucht es Unterstützung von außen – und die bekommt man ja auch. Nach meiner Erfahrung gelingen Veränderungsprozesse und Transformationen aber am besten, wenn eine Organisation oder Gesellschaft bereits gut aufgestellt ist. Wer sich kontinuierlich hinterfragt und aktiv nach Verbesserungen sucht, hat es leichter, sich auf die Zukunft auszurichten. Unternehmen oder Organisationen, die bereits in Schwierigkeiten stecken, benötigen hingegen oft externe Hilfe, um Veränderungen erfolgreich umzusetzen.
Behörden Spiegel: Wie stellen Sie sich den Einsatzort der Zukunft vor?
Stein: Die technologischen Veränderungen, etwa durch Drohnen oder Roboter, sehen wir jetzt schon. Aber die Veränderungen werden nicht so schnell kommen, wie man oft annimmt. In unserer komplexen Welt stoßen solche Innovationen immer wieder an Grenzen.
Ein Beispiel ist die Drohnentechnologie: Grundsätzlich wäre es möglich, eine Drohne bereits vorab zum Einsatzort zu schicken. Doch sie in unserem Luftraum autonom oder ferngesteuert sicher fliegen zu lassen, ist eine enorme Herausforderung – und das aus ganz sachlichen Gründen. Solche Entwicklungen umzusetzen, erfordert viel Zeit und Arbeit.
Als Bürgerinnen und Bürger kann man das gut am autonomen Fahren beobachten. Ja, vermutlich werden wir irgendwann vollständig autonome Fahrzeuge haben. Doch die Autohersteller merken bereits, dass es nicht so schnell geht, wie ursprünglich gedacht.
Werden wir also eines Tages humanoide Roboter haben, die Feuerwehrleute ersetzen und Einsätze übernehmen? Möglich, aber ich bin mir nicht sicher, ob das noch in diesem Jahrhundert geschieht. Oft heißt es, in fünf oder zehn Jahren sei es soweit – doch die technologischen Herausforderungen sind so groß, dass es vermutlich deutlich länger dauern wird. Solche Entwicklungen geschehen nicht von heute auf morgen.
Behörden Spiegel: Wie wird die Feuerwehrfrau bzw. der Feuerwehrmann der Zukunft aussehen? Welche Fähigkeiten muss sie oder er mitbringen?
Stein: Ein Aspekt, der wichtiger wird, ist die Agilität. Dabei geht es vor allem um geistige Agilität, also die Fähigkeit, offen und flexibel auf Veränderungen zu reagieren. Unsere Gesellschaft wird immer schnelllebiger, Veränderungsprozesse nehmen zu. Vielleicht erscheinen sie uns rückblickend gar nicht komplizierter als frühere Entwicklungen, aber im Moment erleben wir sie als zunehmend komplex.
Vergleicht man die heutigen technologischen Entwicklungen mit denen früherer Zeiten, zeigt sich dieser Wandel deutlich. Die Erfindung der Dampfmaschine war sicherlich revolutionär, doch die technologischen Prozesse, mit denen wir heute umgehen, sind ungleich komplizierter. Man muss sie nicht nur verstehen, sondern auch damit leben und arbeiten können.
Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern auch unsere Mitarbeitenden. Ein Rettungseinsatz vor 50 Jahren war – rückblickend betrachtet – in vielerlei Hinsicht einfacher. Die Technik, die Fahrzeuge, die medizinischen Mittel – all das war überschaubar. Wer heute die Türen eines Rettungswagens öffnet und in die Schubladen schaut, sieht eine Vielzahl an hochspezialisierten Geräten und Medikamenten. Die Anforderungen an die Einsatzkräfte sind enorm gewachsen.
Für uns als Organisation bedeutet das: Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger. Unsere Mitarbeitenden müssen nicht nur regelmäßig neues Wissen erwerben, sondern auch geistig flexibel bleiben. Dies bleibt eine zentrale Herausforderung.