(Mirjam Klinger/Anna Ströbele) Schlechte Nachrichten für TikTok: Zum zweiten Mal leitet die Europäische Kommission ein förmliches Verfahren gegen das Tochterunternehmen des chinesischen Konzerns ByteDance ein. Die im April eingeführte App „TikTok Lite“ verstößt laut Kommission gegen den Digital Services Act (DSA). Gleichzeitig droht TikTok in den USA ein Verbot.
Nachdem TikTok Lite zunächst in Frankreich und Spanien genutzt werden konnte, ist es damit bereits wieder vorbei. „Wir setzen die Belohnungsfunktion in Tiktok Lite freiwillig aus, während wir uns mit den Bedenken auseinandersetzen“, verkündete das Unternehmen als Reaktion auf das Vorgehen der EU-Kommission. TikTok Lite arbeitet mit einem sogenannten „Task and Reward Programm“. Hierüber können Nutzende ab 18 Jahren durch das Erfüllen von Aufgaben Punkte sammeln. Als Aufgaben gelten zum Beispiel das Ansehen von Videos, das Liken von Inhalten oder die Einladung von Freunden zur App. Diese Punkte können anschließend gegen Prämien eingetauscht werden, darunter Amazon-Gutscheine oder PayPal-Geschenkkarten. Aufgrund dieser neuen Funktion eröffnete die EU-Kommission ein weiteres Verfahren gegen die Social-Media-Plattform.
Möglicher Verstoß gegen den DSA
Das darauffolgende Aussetzen der neuen Belohnungsfunktionen bestätige die Wirksamkeit der europäischen Vorgaben, findet Dr. Jens Zimmermann, digitalpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. „Richtig ist, dass die Kommission die Untersuchung wegen der Suchtgefahr der Plattform aber weiter fortsetzt“, kommentiert Zimmermann auf Anfrage.
Bereits im Februar hatte die EU-Kommission ein förmliches Verfahren gegen TikTok eingeleitet. Der Jugendschutz, das süchtig machende Design und schädliche Inhalte waren der Grund für dieses erste Verfahren. Das Suchtpotenzial der App wird auch im neuen Verfahren thematisiert. „Wir vermuten, dass die TikTok-Lite-Funktion schädlich ist und süchtig macht, insbesondere für Kinder“, schrieb der EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton auf X. Die EU-Kommission befürchtet, dass TikTok die App veröffentlicht hat, ohne zuvor die damit verbundenen Risiken zu bewerten und Maßnahmen zu ihrer Minderung zu ergreifen. Sollte sich dieser Verdacht bestätigen, würde TikTok gegen die Vorgaben des DSA verstoßen.
Intransparente Eigentümerstruktur
In den USA könnte derweil ein TikTok-Verbot bevorstehen. Die US-Regierung hat dem chinesischen Mutterkonzern ByteDance ein Ultimatum von neun Monaten gesetzt, um das US-Geschäft der App an einen nationalen Akteur zu verkaufen. Erfolgt dies nicht, verschwindet TikTok aus den amerikanischen App-Stores. Der Konzern hat jedoch keine Absicht auf das Verkaufsgebot einzugehen. In einem kürzlich veröffentlichten Statement auf der konzerneigenen Plattform Toutiao schreibt ByteDance: „Ausländische Medienberichte darüber, dass ByteDance den Verkauf von TikTok prüft, sind unwahr.“ Bis heute sei „nicht wirklich transparent“, wie die tatsächliche Eigentümerstruktur von TikTok aussieht und welchen Einfluss der chinesische Staat und das Unternehmen ByteDance haben, merkt Zimmermann an.
Der digitalpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Maximilian Funke-Kaiser, hält ein ähnliches Vorgehen in Europa für nicht umsetzbar. Dennoch bleibe TikTok ein Sicherheitsrisiko und „Plattform für Propaganda aus China und Russland“, stellte der Digitalpolitiker auf X klar. Die Europäische Kommission müsse „die Zügel maximal anziehen“. Ein Verbot sei in Deutschland kein Thema, erklärt auch Bundestagsabgeordnete Nadine Schön (CDU), die selbst auf der Plattform zu sehen ist.
Schon längst produzieren nicht nur Jugendliche, Influencer und Marken bunte Videos auf der App. Auch zahlreiche deutsche Politiker zeigen sich dort mittlerweile regelmäßig. Zuletzt betrat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die TikTok-Bühne – mit dem Ziel, jüngere Zielgruppen anzusprechen, die sich zunehmend auf TikTok informieren. Im ARD-Morgenmagazin verteidigte Digitalpolitikerin Schön die Präsenz von Politikern auf TikTok mit dem Argument, „das Feld“ nicht der AfD überlassen zu wollen. Tatsächlich ist diese auf TikTok sehr erfolgreich. Bevor TikTok den Account des AfD-Politikers Maximilian Krah einschränkte, hatten seine Videos zeitweise mehr als eine Million Aufrufe. Der offizielle Account der AfD-Bundestagsfraktion hat über 400.000 Follower.
„Verstörender Content“
Insgesamt sind rechtsradikale Inhalte auf TikTok weit verbreitet. Die Bildungsstätte Anne Frank veröffentlichte im Februar 2024 einen Bericht über die Verbreitung von Terrorpropaganda, Falschinformationen und Antisemitismus auf TikTok. Dort heißt es, kein anderes soziales Medium versorge eine so junge und verletzliche Zielgruppe mit „derart verstörendem Content“ – und zwar „weitgehend ohne Aufsicht“. Die sozialen Medien seien ihrer „enormen gesellschaftlichen Verantwortung als digitale Gatekeeper“ nie gerecht geworden, kritisiert Dr. Konstantin von Notz, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen. „Als börsennotierte Unternehmen waren ihnen Aktienkurse stets wichtiger als die eigenen Nutzerinnen und Nutzer“, so von Notz. Ein Verbot der App wäre dem Bundestagspolitiker nach ohnehin schwer durchzusetzen – er plädiert aber für die Prüfung eines Teilverbots für bestimmte, „sicherheitssensible“ Bereiche.
Bis dahin sieht er Potenzial in der „entschlossenen“ Umsetzung des DSA in nationales Recht: Dem Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) hat der Bundesrat nun zugestimmt. Dadurch bekämen Nutzer bessere Möglichkeiten, um Hassrede und illegale Inhalte zu melden, erläutert von Notz auf Anfrage. Bei Regelverstößen drohten den Plattformen „extrem hohe Geldstrafen“. Der Grünen-Politiker betont weiterhin die Rolle der Aufsichtsbehörden: Diese müssten gut ausgestattet sowie unabhängig sein.
6.000 Moderatoren für die EU
TikTok selbst informiert in seinem zweiten Transparenzbericht im Rahmen des DSA über die Anstellung von 6.000 Moderatoren für die Inhalte in der EU. Zudem konnten die europäischen Nutzenden bereits im letzten Jahr mutmaßlich illegale Inhalte melden. Laut TikTok gingen zwischen Oktober und Dezember 2023 60.000 Meldungen ein.
Einen Einfluss auf die Plattform hat der Digital Services Act somit bereits gehabt. Wie es mit der Schwesterapp TikTok Lite und in den USA weitergeht, wird sich zeigen.