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StartSicherheitNachrichtendienste vor großen Herausforderungen

Nachrichtendienste vor großen Herausforderungen

Torsten Voß ist Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) sowie Vorsitzender des Arbeitskreises IV der Innenministerkonferenz. Auch dort geht es um Fragen der Nachrichtendienste. Im Interview mit dem Behörden Spiegel spricht er über die Gefährdungen durch die unterschiedlichen Extremismusformen und wie sich die Nachrichtendienste darauf einstellen sollten. Die Fragen stellten Uwe Proll und Marco Feldmann.

Behörden Spiegel: Herr Voß, warum gibt es beim Hamburger Verfassungsschutz die Beobachtungskategorie „verschwörungsideologischer Extremismus“? Das ist bislang bundesweit einmalig.

Torsten Voß: Es war die zunehmende Verbreitung verfassungsfeindlicher Verschwörungsideologien, die wir in Hamburg zum Anlass genommen haben, im Verfassungsschutzbericht unter der Überschrift „Verschwörungsideologischer Extremismus“ zu informieren. Unter diesen Phänomenbereich fallen die „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierer des Staates“ sowie „Reichsbürger und Selbstverwalter“. Bei diesen Extremisten gibt es Schnittmengen, und das Streuen von Verschwörungserzählungen ist das maßgebliche ideologische Band.

Behörden Spiegel: Welchen analytischen Mehrwert versprechen sie sich davon?

Voß: Einen immensen, den wir beispielsweise bei der Ermittlung von Personenpotenzialen bereits feststellen. Die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern hatten sich, in ihrer Funktion als Frühwarnsystem der Demokratie, schon ab 2020 in einer Arbeitsgruppe mit der strukturellen Einordnung der im Kontext der Corona-Proteste virulenten Verschwörungsideologien befasst und damit den Grundstein für die Einrichtung des neuen Phänomenbereichs „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ gelegt.

Behörden Spiegel: Die Berichterstattung in einem der klassischen Phänomenbereiche kommt nicht in Frage?

Voß: Eine Einordnung dieser neu auftretenden Verfassungsfeinde in bestehende Phänomenbereiche, etwa in den Rechtsextremismus, passt analytisch nicht, darin sind wir uns in Bund und Ländern einig, wobei wir weltanschauliche und personelle Überschneidungen feststellen. Schon 2020 hatten wir in Hamburg mit Blick auf die Verschwörungsideologien für die Agitation dieser Extremisten auf erhebliche Gemeinsamkeiten zwischen Reichsbürgern und Delegitimierern hingewiesen – ideologisch und auch personell. Auch öffentlich ist es sehr gut vermittelbar, über diese beiden Phänomenbereiche in einem Kapitel „Verschwörungsideologischer Extremismus“ zu berichten.

Behörden Spiegel: Ein aktuelles Praxisbeispiel für die Agitation solcher Verfassungsfeinde sind die mutmaßlich terroristischen Umsturzplanungen der Gruppierung um Prinz Reuß?

Voß: Ein sehr gutes Beispiel – und im Übrigen auch ein weiterer eindrucksvoller Beleg für die erfolgreiche Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit der Verfassungsschutzbehörden und die sehr gute Kooperation mit Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Überschrift „Verschwörungsideologischer Extremismus“ erweist sich gerade nach den Exekutiv-Maßnahmen gegen dieses sehr heterogene Netzwerk aus dem Reichsbürger-Milieu als sinnvoll. Hier fließen Verschwörungserzählungen aus dem Spektrum der Reichsbürger und Delegitimierer und rechtsextremistische Narrative zusammen – mit Verschwörungsmythen als Scharnierfunktion.

Behörden Spiegel: Stellen Sie auch Überschneidungen zu anderen extremistischen Phänomenbereichen fest?

Voß: Ausdrücklich ja. Ein regionales Beispiel ist der Hamburger extremistische Verein UMEHR e.V. aus dem Delegitimierer-Spektrum, bei dem neben verschwörungsideologisch geprägten Argumentationen aus dem Reichsbürger- und Delegitimier-Spektrum auch Bezüge in den Linksextremismus sowie eine ausgesprochen pro-russische Attitüde feststellbar ist – und das bereits vor dem völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Insofern ist es analytisch absolut sinnvoll, mit der Kategorie „Verschwörungsideologischer Extremismus“ zu arbeiten – diese Verfassungsfeinde sind etwas Neues.

Behörden Spiegel: Verschwörungsideologische Extremisten, Rechtsextremisten, Islamisten, Linksextremisten – Herr Voß, Sie haben als Vorsitzender des Arbeitskreises IV „Verfassungsschutz“ der Innenministerkonferenz seit Jahren eine wichtige Position inne – welchen Phänomenbereich halten Sie für den gefährlichsten?

Voß: Ich bin bei diesem Thema kein Freund von Gewichtungen und Tabellen…

Behörden Spiegel: …aber der AK-IV-Vorsitzende „Verfassungsschutz“ wird doch eine Meinung haben?

Voß: Die habe ich ausdrücklich, fachlich begründet. Vorab: Je nach Datum werden Sie auf Ihre Frage andere Antworten bekommen. Wenn Sie Ihre Frage vor 50 Jahren, zur Hochzeit der linksterroristischen Rote Armee Fraktion, gestellt hätten, hätten Sie andere Antworten bekommen als beispielsweise nach dem 11. September 2001 – ein Tag, von dem bis heute jeder weiß, wo er oder sie war. Wir dürfen keine verfassungsfeindliche Bedrohung unterschätzen – den 360-Grad-Blick, den wir mit Recht bei der Spionageabwehr haben, brauchen wir auch nach wie vor bei der Beobachtung und Bekämpfung aller extremistischen Gruppierungen von rechts bis links. Die größte Bedrohung für die Demokratie in Deutschland insgesamt ist meines Erachtens gegenwärtig der Rechtsextremismus. Und dabei geht es, weit vor Anschlägen, bereits um das Einsickern rechtsextremistischer Diskurse, Gedanken und Ideologien in die demokratische Mitte der Gesellschaft.

Behörden Spiegel: Wie groß ist derzeit das islamistische Gefährdungspotenzial in Deutschland?

Voß: Nach wie vor sehr, sehr hoch, bei mehr als 27.000 Islamisten in ganz Deutschland. Beispiel Hamburg: Die Zahl der Islamistinnen und Islamisten hat sich seit 2014 von 955 auf 1.755 fast verdoppelt. Davon gelten immerhin 82 Prozent als gewaltorientiert, das heißt, zumindest befürworten oder unterstützen sie Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer ideologischen Ziele.

Behörden Spiegel: Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Voß: Mit der Ausrufung des Kalifats in Syrien und dem Nordirak durch den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) im Jahr 2014 ging der Anstieg der Zahlen, insbesondere im Bereich der Salafisten und Jihadisten, einher. Jihadisten sind besonders gewaltorientierte Salafisten, also zum Beispiel alle die, die versucht haben, Richtung Syrien und Nordirak auszureisen, um die Terrormiliz IS zu unterstützen. Aber wir beobachten seit einigen Jahren einen starken Zulauf auch bei der verbotenen Hizb ut-Tahrir und bei der Furkan-Gemeinschaft. Hizb ut-Tahrir und Furkan-Gemeinschaft streben eine Gesellschaft, ein Kalifat, unter anderem auf Basis der Scharia an – das ist mit unserer Demokratie absolut unvereinbar.

Behörden Spiegel: Über welche aktuellen Entwicklungen können Sie berichten?

Voß: Das Territorium des IS im Irak und in Syrien ist zwar mittlerweile militärisch zerschlagen, aber es gibt weiterhin sehr aktive IS-Regionalableger in Afrika und Asien. Zudem gibt es den IS ideologisch und virtuell im Netz weltweit mit einer Vielzahl von Unterstützenden. Die sogenannte Da’wa-Arbeit, bei der Salafisten versuchen, ihre Ideologie durch intensive Propaganda zu verbreiten, hat im Jahr 2023 wieder zugenommen.

Behörden Spiegel: Wie zeigt sich das derzeit konkret?

Voß: Wir haben eine Reihe von Veranstaltungen mit islamistischen Predigern in Deutschland, auch in Hamburg, festgestellt. Diese Prediger werben für ihre Veranstaltungen und ziehen junge Menschen an, die noch nicht fest in der islamistischen Szene verankert sind. Die Besucher dieser Veranstaltungen, die teilweise sogar live in den Sozialen Netzwerken gestreamt werden, sind in der Regel hier in Deutschland geboren, aufgewachsen und sozialisiert.

Behörden Spiegel: Von wem sprechen wir hier genau?

Voß: Wir reden hier über jüngere Menschen, die so gar nicht den gängigen Klischees von Islamisten entsprechen. Und manche Prediger kann man durchaus als popkulturelle Influencer bezeichnen. Videos zeigen jüngere Männer, die im teuren Sportwagen vorfahren. Die Vorstellung des klassischen Islamisten, die viele Menschen haben und an ältere Männer mit weißen Bärten denken, ist nicht mehr real. Man versucht gezielt, thematisch und medial, junge Muslime anzusprechen, die in unserer konsumorientierten Welt sozialisiert sind und – auch wenn das eigentlich ein Widerspruch zur Religion ist – diesen Konsum für sich beanspruchen. Hier konstatieren wir zudem eine zunehmende Entgrenzung.

Behörden Spiegel: Was meinen Sie mit Entgrenzung?

Voß: Die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen demokratischem und extremistischem Engagement, vor allem über populäre, gesellschaftlich relevante, akzeptierte Themen. Beispiel Kroanverbrennung in Schweden, die jeder Demokrat ablehnt. Islamisten aus dem Milieu des Hizb ut-Tahrir-nahen Netzwerkes „Muslim Interaktiv“ missbrauchten dieses Ereignis für ihre antidemokratischen Zwecke und meldeten für Februar dieses Jahres in Hamburg eine Demonstration an, an der 3.500 Menschen teilnahmen – darunter mitnichten alles Islamisten. Auch Rechts- und Linksextremisten versuchen zu entgrenzen, beispielsweise über das Thema geflüchtete Menschen.

Behörden Spiegel: Welche Rolle spielt diesbezüglich die Plattform TikTok?

Voß: Meine Berliner Kollegen haben von einer „TikTokisierung“ des Islamismus gesprochen, diese Einschätzung teile ich ausdrücklich. Die Plattform ist ein wichtiger Kommunikationsort für Salafisten verschiedenster Altersgruppen – auch zur Selbstdarstellung. Und fast jede Szenegröße und wichtiger Prediger hat eigenen Accounts in den Sozialen Medien und Messenger-Diensten.

Behörden Spiegel: Wie ließen sich denn solche „Karrieren“ junger Menschen verhindern?

Voß: Das geht eindeutig nur mit noch mehr Prävention, mit noch mehr Früherkennung. Ich sehe das als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, weit bevor Sicherheitsbehörden aktiv werden. Familien, Freunde, Bekannte, Kitas, Schulen, Bildungseinrichtungen, Sportvereine – alle sie sind gefragt, sich für unsere Demokratie stark zu machen und im Einzelfall sich auch vertraulich an Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz zu wenden. Wir arbeiten in Hamburg sehr gut mit allen Playern im Präventionsnetzwerk gegen religiös motivierten Extremismus zusammen. Die Federführung der Prävention liegt in Hamburg bei der Sozialbehörde. Ähnlich erfolgreich arbeitende Netzwerke gibt es bundesweit in allen Ländern. Darauf sollten wir aufbauen.

Behörden Spiegel: Wie stellt sich der Verfassungsschutz noch besser auf?

Voß: Ich stelle bundesweit eine hohe Spezialisierung fest, ebenso, dass in etlichen Behörden die Anzahl der Stellen deutlich erhöht wurde und wird, in Hamburg durch den Senat sogar um ein Drittel, das ist enorm. Wir haben zudem eine neue Internet-Spezialeinheit Islamismus aufgebaut. Ziel ist, das Dunkelfeld noch weiter aufzuhellen.

Behörden Spiegel: Wie arbeitet diese Einheit – können Sie dazu offen etwas sagen?

Voß: Wir haben diese „Spezialeinheit Islamismus“ anlog zur erfolgreichen „Spezialeinheit Rechtsextremismus“ eingerichtet. Die Beobachtungsdichte konnte durch die Arbeit dieser Einheit Rechtsextremismus deutlich gesteigert werden. Dieser erfolgreiche Ansatz ist auf den Bereich Islamismus, bei dem die Nutzung Sozialer Medien verstärkt erfolgt, eine stetige Zunahme von Online-Aktivitäten festzustellen ist und mögliche Tatvorbereitungen im Internet stattfinden könnten, übertragen worden. Seit Oktober 2022 ist die Spezialeinheit Islamismus mit den ersten Mitarbeitenden bereits im Einsatz. Mit der Einrichtung dieser Spezialeinheit wird erwartet, noch intensiver wertige Informationen aus den Online-Aktivitäten islamistischer Organisationen, Bestrebungen oder entsprechend motivierter Einzelpersonen zu generieren und die nachrichtendienstliche Internetbearbeitung in diesem Arbeitsfeld des Verfassungsschutzes zu optimieren. Seit September 2023 ist die Einheit personell komplett.

Behörden Spiegel: Wie werden Sie den Islamismus in Zukunft bekämpfen?

Voß: Wir, Verfassungsschutz und Sicherheitsbehörden insgesamt, werden den Islamismus auch künftig mit aller Kraft beobachten und bekämpfen. Dabei möchte ich nochmal auf die Erfolge hinweisen. So haben wir durch die Schwerpunktsetzung im Verfassungsschutz die Szene intensiv aufgeklärt. Hamburg hat als erstes Bundesland überhaupt die salafistischen Koranverteilungs-Stände verboten – maßgeblich mit unseren Erkenntnissen. Gleiches gilt für das spätere bundesweite Verbot der LIES-Kampagne. Es gab zahlreiche Festnahmen, Durchsuchungen und Verurteilungen, auch dank der Aufklärung durch den Verfassungsschutz. Ebenso Ausweisungen, wie die des stellvertretenden Leiters des „Islamischen Zentrums Hamburg“. Auch die umfangreiche Aufklärung der Öffentlichkeit trägt zur frühzeitigen Information der Menschen und damit zu deren Sicherheit bei.

Behörden Spiegel: Aufgrund einer aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besteht erheblicher gesetzlicher Anpassungsbedarf im Bereich des Verfassungsschutzrechts. Was wünschen Sie sich hier, insbesondere in Ihrer Funktion als Vorsitzender des Arbeitskreises Verfassungsschutz der Innenminister?

Voß: Zunächst einmal habe ich höchsten Respekt vor dem Primat der zuständigen Legislative. Ich plädiere für möglichst harmonische Verfassungsschutzgesetze in Bund und Ländern, die uns auch künftig die rechtliche Handhabe für unsere wichtigste und vornehmste Aufgabe geben, die uns die Mütter und Väter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1948/49 angesichts der dramatischen Erfahrung mit der von ganz rechts und ganz links bekämpften und letztendlich von rechts zerstörten Weimarer Demokratie zugedacht haben – die des Frühwarnsystems der Demokratie, weit im Vorfeld von Straftaten und Gefahrenabwehr, eben gerade nicht als Hilfspolizei oder Hilfsstaatsanwaltschaft. Ein bundesweites Mustergesetz benötigen wir meiner Ansicht nach aber nicht.

Behörden Spiegel: Vor welchen künftigen Herausforderungen steht der Verfassungsschutz aus Ihrer Sicht?

Voß: Der geschilderte notwendige Rechtsrahmen für uns als Frühwarnsystem der Demokratie, damit wir effektiv arbeiten können, sowie die Personalgewinnung sind große Herausforderungen. Als Nachrichtendienst müssen wir auch künftig unsere nachrichtendienstlichen Mittel effektiv einsetzen können.

Behörden Spiegel: Wie begegnen Sie diesem Problem?

Voß: Wir müssen deshalb noch mehr als bisher dazu übergehen, Erkenntnisse, die wir mithilfe nachrichtendienstlicher Mittel gewonnen haben, zumindest teilweise auch durch offen zugängliche Quellen zu untermauern, um sie dann im Verfassungsschutzbericht erwähnen zu können. Denn die Information der Öffentlichkeit bleibt eine unsere wichtigsten Aufgaben. Zudem plädiere ich dafür, die enge, transparente und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den parlamentarischen Kontrollgremien weiter auszubauen, denn wir haben mit Recht den Primat der Politik in unserer Demokratie, nicht den Primat der Exekutive.

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