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Die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB bei Beschaffung von Rettungsdienstleistungen -eine dynamische Norm

Die äußerst praxisrelevante Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB unterliegt, wie kaum eine andere Norm der vergaberechtlichen Bereichsausnahmen (§§ 107 ff. GWB), einer stetigen Konkretisierung durch die Rechtsprechung. Dies dürfte vor allem an der hohen praktischen Bedeutung der Norm liegen. Die aktuelle Entscheidung des OLG Düsseldorf Beschl. v. 22.03.2023 – VII Verg 28/22 bestätigt die grundsätzliche bundesweite Anwendbarkeit der Bereichsausnahme. Der Beitrag möchte der Vergabepraxis eine Handhabe für die relevante und teils komplexe Rechtsprechung geben.

I. Der Gesetzestext

Die Beauftragung von Rettungsdienstleistungen an gemeinnützige Organisationen kann unter Umständen ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens erfolgen. Konkret besagt § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB, dass ein Vergabeverfahren nicht durchzuführen ist, wenn ein(e) öffentliche(r) Auftrag oder Konzession

  • zu Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr,
  • die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden
  • und die unter die Referenznummern des Common Procurement Vocabulary 75250000-3, 75251000-0, 75251100-1, 75251110-4, 75251120-7, 75252000-7, 75222000-8, 98113100-9 und 85143000-3
  • mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung fallen;
  • gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer sind insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind.

Die Tatbestandsvoraussetzungen müssen kumulativ vorliegen.

II. Der Zweck der Ausnahme von der Ausschreibungspflicht

§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB ist die – nahezu wortlautidentische – Umsetzung der Art. 10 Abs. 8 lit. g RL 2014/23/EU, Art. 10 lit. h RL 2014/24/EU und Art. 21 lit. h RL 2014/25/EU. Zum einen hat die Bereichsausnahme den Hintergrund, dass – so die jeweiligen Erwägungsgründe der Richtlinien – Vergabeverfahren in dieser Fallkonstellation nicht durchgeführt werden müssen, weil der spezielle Charakter von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen nur schwer gewahrt werden könnte, wenn sich diese Dienstleister an einem streng formalistischen Verfahren beteiligen müssten. Allerding betont der Richtliniengeber zugleich, dass diese Ausnahme von der Ausschreibungspflicht nicht über das notwendigste Maß hinaus ausgeweitet werden soll (Erwgr. 36 RL 2014/23/EU). Insofern ist ein Gleichgewicht zwischen Regel- und Ausnahmeverhältnis zu wahren.

III. Qualifizierter Krankentransport unterliegt grd. nicht der Ausschreibungspflicht

Dem Normtext sowie den Richtlinienerwägungen ist zu entnehmen, dass der Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung nicht ausgenommen ist („Ausnahme von der Ausnahme“; vgl. auch Erwgr. 36 RL 2014/23/EU). Ob ein sog. qualifizierter Krankentransport ebenfalls als „Ausnahme von der Ausnahme“ anzusehen ist, hatte der EuGH im Verfahren EuGH (Dritte Kammer), Urt. v. 21.3.2019 – C-465/17 (Falck Rettungsdienste GmbH, Falck AS/Stadt Solingen) zu klären. Das Gericht verneinte die Pflicht zur Durchführung eines Vergabeverfahrens bei dieser speziellen Art von Transporten. Ausgenommen von einer Ausschreibungspflicht sind demnach der qualifizierte Krankentransport, der

  • neben der Transportleistung
  • die Betreuung und Versorgung in einem Krankentransportwagen durch einen Rettungssanitäter, unterstützt durch einen Rettungshelfer, beinhaltet
  • und unter den CPV-Code 85 143 000-3 (Einsatz von Krankenwagen) fällt
  • sofern er tatsächlich von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt wird
  • und einen Patienten betrifft, bei dem das Risiko besteht, dass sich sein Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert.

IV. „gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen“ dürfen keine Gewinnerzielungsabsicht haben

Nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 HS. 2 GWB sind gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen im Sinne dieser Nummer insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Gesetzestext nicht streng wörtlich genommen werden darf und europarechtskonform auszulegen ist. Da der im Halbsatz zwei in Bezug genommene § 26 Abs. 1 S. 2 ZNS KG nichts an die Feststellung einer fehlenden Gewinnerzielungsabsicht anknüpft, setzt Halbsatz zwei die Richtlinienanforderungen nicht ausreichend um (Beck VergabeR/Gurlit, 4. Aufl. 2022, GWB § 107 Abs. 1 Rn. 36, vgl. auch EuGH (Dritte Kammer), Urt. v. 21.3.2019 – C-465/17 (Falck Rettungsdienste GmbH, Falck AS/Stadt Solingen). § 107 Abs. 1 Nr. 4 HS. 2 GWB ist daher insoweit europarechtskonform auszulegen, als dass jedenfalls nur solche Organisationen oder Vereinigungen als „gemeinnützig“ anzusehen sind, bei denen eine Gewinnerzielungsabsicht fehlt (vgl. OLG München, Beschl. v. 21.10.2019 – Verg 13/). Nicht eindeutig ist, wie dies darzulegen ist. Zu erwägen ist, den Status einer gemeinnützigen Organisation oder Vereinigung an ein Gemeinnützigkeitstestat i. S. v. § 52 AO zu knüpfen (Beck VergabeR/Gurlit, 4. Aufl. 2022, GWB § 107 Abs. 1 Rn. 36).

V. Die Dienstleistung muss von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen „erbracht werden“

Auch bei dem Tatbestandsmerkmal „erbracht werden“ ist Kenntnis der Rechtsprechung zwingend erforderlich. Dieses Merkmal (und somit auch die Ausnahme von der Ausschreibungspflicht) soll dann nicht vorliegen, wenn der Auftraggeber den Wettbewerb nicht nur für gemeinnützige Organisation eröffnet hat, sondern auch für gewerblich tätige (OLG Celle, Beschl. v. 25.6.2019 – 13 Verg 4/19). Bei Durchführung eines Vergabeverfahrens auch mit gewerblich tätigen Unternehmen verzichtet der öffentliche Auftraggeber somit auf Inanspruchnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB und kann sich im Nachhinein nicht mehr auf die Bereichsausnahme berufen. Der Umstand, dass die Dienstleistung in der Vergangenheit von gewerblich tätigen erbracht wurde oder eine potenzielle Marktverfügbarkeit von gewerblichen Unternehmen, führt hingegen nicht zur Verpflichtung kommerzielle Anbieter bei einem Vergabeverfahren zu beteiligen (vgl. OLG Brandenburg Beschl. v. 26.7.2021 – 19 Verg 3/21). Die konkrete Ausgestaltung des Vergabeverfahrens ist mithin entscheidend dafür, ob die Bereichsausnahme nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB greift.

VI. Fazit und Empfehlung

Die aufgezeigte Rechtsprechung macht deutlich, dass es für die etwaige Inanspruchnahme der Bereichsausnahme nicht ausreichend ist, sich ausschließlich auf den Gesetzestext zu berufen. Eine fundierte Kenntnis der umfassenden Rechtsprechung muss als zwingend erforderlich angesehen werden. Da davon auszugehen ist, dass die Norm auch in Zukunft rechtsprechungsgeprägt bleibt, ist dem öffentlichen Auftraggeber zu empfehlen diese im Blick zu behalten oder externen Rat bei Fragen zur Bereichsausnahme einzuholen.

Der Autor des Gastbeitrag ist Rechtsanwalt Peter Schwientek.

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