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Zu weitführende Einschränkung der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB

OLG Schleswig, Beschl. v. 19.09.2022 – 54 Verg 3/22 – „Funk- und Notrufabfragesystem“

Die Rügeobliegenheit des § 160 Abs. 3 GWB ist nicht isoliert, sondern im Rahmen einer Gesamtschau im Zusammenhang mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB, die eine Verletzung in Rechten des Antragstellers durch Nichtbeachtung von Vergabevorschriften i.S.d. § 97 Abs. 6 GWB erfordert, zu betrachten. Eine Rügeobliegenheit besteht daher nur bei Verstößen gegen Vergabevorschriften, aus denen eine Verschlechterung der Zuschlagschance des Antragstellers resultieren kann

I.Was war passiert und wo liegt das Problem?

Der Antragsgegner (Ag.) betreibt die I. Süd für die Kreise S., H. und O. für den Rettungsdienst, Brand- und Katastrophenschutz. Er schloss mit der Stadt K., der Betreiberin der I. Mitte, eine Absichtserklärung über eine Zusammenarbeit. Diese nahm zum Ende des Jahres 2018 als Funk- und Notrufabfragesystem (FNAS) das System MECC der Antragstellerin (Ast.). in Betrieb, die das System auch wartet. Die Beigeladene (Beigel.) setzt als Software des von ihr angebotenen FNAS das Programm AGARD ein. Das MECC der Ast. und das ASGARD der Beigel. können nicht im Sinne eines Datenaustausches miteinander vernetzt werden, wobei Einzelheiten hierzu streitig sind. Der Ag. schrieb den Lieferauftrag „Neubau I., hier: Leitstellentechnik“ europaweit durch Bekanntmachung aus. Gegenstand war die „Lieferung, Installation und Inbetriebnahme von Leitstellentechniken und Ausrüstung der Stabstelle“. Bei der Wertung der Angebote, wo der Preis das einzige Zuschlagskriterium war, landete die Ast. auf Platz Zwei hinter der Beigel.

Im Folgenden beanstandete die Ast. die Wertung und stellte einen Nachprüfungsantrag, den sie unter anderem darauf stützte, dass sie anzweifelte, ob der Erstplatzierte in der Lage sei, das von ihr für richtig gehaltene Leistungssoll erfüllen zu können. Die Ast. ging aufgrund der Vergabeunterlagen davon aus, dass der Auftrag eine vollständige Vernetzung der FNAS der I. Süd und I. Mitte beinhalte. Dies habe dazu geführt, dass die Ast. dies im Gegensatz zur Beigel. in ihrer Berechnung berücksichtigt hatte, was zu der Zweitplatzierung führte.

Die Vergabekammer wies den Antrag mit der Begründung zurück, dass dieser unzulässig sei. Die Ast. sei mit ihrem Vorbringen nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB präkludiert, da die gerügten Vergaberechtsverstöße erkennbar gewesen seien. Laut der Vergabekammer hätte dies für die Ast. bei sorgfältiger Lektüre der Vergabeunterlagen sowie der Erstellung des Angebotes erkennbar sein müssen.  Dagegen legte die Ast. sofortige Beschwerde beim OLG Schleswig ein.

II. Was sagt das OLG Schleswig dazu?

Mit Erfolg. Anders als die Vergabekammer entschied das OLG Schleswig, dass die Rügen der Ast. nicht nach § 160 Abs. 3 GWB präkludiert seien.

Zum einen musste die Ast. die zivilrechtliche Unwirksamkeit der Vertraulichkeitsvereinbarung nach AGB-Recht, die einen Teil der Vergabeunterlagen darstellte, nicht nach § 160 Abs. 3 GWB rügen, weil es sich nicht um eine der Rügeobliegenheit unterliegenden Vergabevorschrift i.S.d. § 160 Abs. 3, 97 Abs. 6 GWB handele.

Auch die Rüge der Ast., das Angebot der Beigel. hätte nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV ausgeschlossen werden müssen, sei nicht präkludiert. Es sei für die Ast. vor der Mittelung nach § 134 Abs. 1 GWB weder positiv bekannt noch i.S.v. § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 u. 3 GWB erkennbar gewesen, dass der Auftrag an ein Unternehmen erfolgen sollte, dass FNAS nicht das MECC einsetzen konnte oder ob und ggf. welche Unternehmen sich an dem Vergabeverfahren beteiligen würden. Das OLG Schleswig betitelte die Auslegung der Vergabeunterlagen durch die Ast insoweit als „gut vertretbar“.

Die Rüge wäre nach § 160 Abs. 3 GWB auch nicht präkludiert, wenn ein Teilbereich des FNAS nur von der Ast. hätte erfüllt werden können. Die Rügeobliegenheit sei nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit der Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB zu betrachten. Sie bestehe nur hinsichtlich solcher Verstöße gegen Vergabevorschriften, aus denen eine Verschlechterung der Zuschlagschance des Ast. resultiert. Soweit die Ast. der Auffassung war, die geforderte Leistung könne nur von ihr erbracht werden, war sie nicht verpflichtet, dies zu rügen. Begründet wird dies mit einer produktscharfen (zulässigen) Ausschreibung, wo eine Rüge von denjenigen Bietern, die das Produkt anbieten, nicht erforderlich ist.

Auch die Rügen bzgl. der Intransparenz der Vergabeunterlagen und einer mangelnden Vergabereife bzgl. der Vernetzung der FNAS seien nicht präkludiert. Weder die Intransparenz noch die fehlende Vergabereife habe die Ast. positiv erkannt noch waren für sie derartige Verstöße gegen ihre Bieterrechte erkennbar. Weitere Begründungen sucht man hier vergebens.

III. Bedeutung für die Praxis

Das OLG Schleswig nimmt mit dem Beschluss eine weitgehende Einschränkung der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB vor, die zu Unsicherheiten bzgl. der Vergabeunterlagen bei Vergabestellen führen wird.

In Bezug auf die gegen AGB-Recht verstoßende Vertraulichkeitsvereinbarung verkennt das OLG Schleswig, dass sich die unzulässig weitgehende Vertraulichkeitsverpflichtung auf die Rechtstellung des Bieters auswirkt und mithin auch eine den Bieter benachteiligende und den Wettbewerb hindernde Vergabeverfahrensregelung vorliegt (vgl. Michaels, IR 2022, 321 (323)).

Auch die Einschränkung der Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 GWB auf erkennbare Vergaberechtsverstöße, aus denen eine Verschlechterung der Zuschlagschance des Antragstellers resultiert, ist einschneidend. Das OLG Schleswig bezieht sich dabei auf eine einzige Stimme in der Literatur (vgl. Beck VergabeR/Horn/Hofmann, 4. Aufl. 2022, GWB § 160 Rn. 66). Weitere Rechtsprechung oder Literatur zu dieser Thematik findet sich darüber hinaus nicht.

Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit sei es aber gerade, den Vergabestellen die Möglichkeit zur frühzeitigen Selbstkorrektur zu geben und unnötige Nachprüfungsverfahren zu vermeiden (BT-Drs. 13/9340, S. 17; BeckOK VergabeR/Gabriel/Mertens, 28. Ed. 30.4.2023, GWB § 160 Rn. 222). Es gehe darum, Verzögerungen der Auftragsvergabe durch (unnötige) Vergabenachprüfungsverfahren zu vermeiden (Ziekow/Völlink/Dicks, 4. Aufl. 2020, GWB § 160 Rn. 37). Der Unternehmer, der auf einen erkannten Fehler spekuliert, weil er sich möglicherweise zu seinen Gunsten auswirken könnte, solle insoweit nicht Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einfordern dürfen, wenn seine Spekulation nicht aufgeht (BT-Drs. 13/9340, S. 17).

Die Vergabestellen müssen nun aufgrund dieser Einschränkungen damit rechnen, dass noch kurz vor Zuschlagserteilung eine Rüge bzgl. der Vergabeunterlagen möglich ist, ohne dass diese präkludiert ist. Dies führt zu erheblichen Unsicherheiten in Bezug auf die festgelegten Vergabeunterlagen. Vergabestellen müssen jederzeit davon ausgehen, dass die Vergabeunterlagen auch nach der Angebotsfrist rechtswidrig sind.  Dies begünstigt allein den Unternehmer und verkennt damit den Sinn und Zweck des § 160 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 GWB.

Die Autoren des Gastbeitrags sind Rechtsanwalt Andreas Rosenauer und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Nathalie Knacke.

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