Erstmals äußert sich das chinesische Verteidigungsministerium öffentlich zu seinem Nationalen Sicherheitskonzept und gibt eine Einschätzung zur Sicherheitslage im Indo-Pazifik. An den USA übt das Reich der Mitte harsche Kritik.
Die Autorinnen und Autoren des White Papers „Chinas nationale Sicherheit in der neuen Ära“ vom 12. Mai 2025 versprechen Historisches. Das Land befinde sich in einer entscheidenden Phase, in der die umfassende Modernisierung im chinesischen Stil vorangetrieben und die nationale Wiederbelebung verwirklicht werden solle, heißt es bereits im ersten Kapitel. Ein Anspruch, den das Reich der Mitte in einer Welt erhebt, die es als zunehmend konfliktbeladen empfindet. Geopolitische Spannungen, regionale Konflikte und Instabilität, eine stockende Globalisierung sowie nicht-traditionelle Sicherheitsbedrohungen – aus chinesischer Sicht prägen diese Tendenzen die sicherheitspolitische Weltlage.
Große Ansprüche im Südpazifik
Im Zentrum der skizzierten Entwicklung steht nach Ansicht der Autorinnen und Autoren der asiatisch-pazifische Raum – strategisch wie wirtschaftlich. China, so das Selbstverständnis, stelle in dieser komplexen Gemengelage einen Stabilitätsfaktor dar. Konkret bedeutet das sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf regionaler und subregionaler Ebene. Wie sich das in der Praxis äußert, wurde zuletzt vergangene Woche in Kambodscha deutlich. Als Protegé des Landes investiert die Volksrepublik in die Wirtschaft und Infrastruktur des südostasiatischen Staates. Die Projekte sind dabei nicht ausschließlich ziviler Natur. Dass China eine Marinebasis der kambodschanischen Streitkräfte renovierte, stieß in Washington auf Kritik.
Die USA befürchten, dass China den Hafen nutzen könnte, um seinen Einfluss im Golf von Thailand auszubauen. Welchen Eigennutz China aus dem Hafenprojekt zieht, ist spekulativ. Nicht zu bestreiten ist hingegen, dass China und Kambodscha militärisch enger zusammenrücken. Im Rahmen der Übung „Golden Dragon“ trainieren noch bis zum 28. Mai etwa 900 chinesische und 1.300 kambodschanische Soldatinnen und Soldaten gemeinsam. Damit hat die jährliche Übung den größten Umfang ihrer Geschichte erreicht. Ziel des Joint Military Drills unter dem Motto „Frieden, Freundschaft und Zusammenarbeit“ sei laut dem Southern Theater Command der chinesischen Streitkräfte die gemeinsame Terrorismusbekämpfung sowie humanitäre und Katastrophenhilfe. Auch technisch ist die Übung hochkarätig. Wie aus einem Statement der kambodschanischen Streitkräfte hervorgeht, wird China gepanzerte Fahrzeuge, Hubschrauber, Kriegsschiffe, Aufklärungsdrohnen und Roboter-Kampfhunde zum Einsatz bringen.
Die USA als Unruhestifter
Aus chinesischer Perspektive ist die sino-kambodschanische Partnerschaft ein Beispiel für die Ziele, die laut dem White Paper von der Mehrheit der Staaten im Südpazifik verfolgt werden: Frieden fördern, Stabilität wahren und Entwicklung vorantreiben. Allerdings mahnen die Autorinnen und Autoren vor einer Gegenbewegung: „Einzelne Staaten versuchen, ihre militärischen Allianzen in der Region auszubauen, regionale Partner an sich zu binden und exklusive ‚Kleingruppen‘ zu etablieren.“ Ein Hinweis, der sich auf westliche Staaten insgesamt und auf die USA im Besonderen bezieht. Konkret mache es die Einmischung einzelner Staaten zunehmend schwer, ungelöste Streitigkeiten über Hoheitsrechte an Land und auf See zu moderieren.
Gemeint sind damit das Veto der USA gegen Chinas Ansprüche auf Taiwan und auf das gesamte Südchinesische Meer – Thematiken, die China als seine „Nachbarschaftsangelegenheiten“ versteht. Auffällig ist, dass sich Chinas Kritik an den USA nicht auf sicherheitspolitische Themen beschränkt. Die chinesische Diagnose einer zunehmend konfrontativen Welt umfasst auch die Renaissance des Protektionismus. Einzelne Länder verhängten unter dem Vorwand nichtwirtschaftlicher Gründe Zölle, moniert das nationale Sicherheitskonzept.
Wo sich China bedroht fühlt
Das zunehmende Engagement der USA auf den Philippinen und in anderen südostasiatischen Staaten bereitet China Kopfzerbrechen. Daraus macht auch das White Paper keinen Hehl. Implizit sprechen die Autorinnen und Autoren mehrfach die USA an. Wirklich unmissverständlich werden die Ausführungen aber beim Mittelstreckenraketensystem „Typhoon“. Vergangenes Jahr stationierten die USA nach einer gemeinsamen Militärübung mit den philippinischen Streitkräften das System dauerhaft im Land. Seine Stationierung verschärfe die Spannungen in der Region, kritisiert Peking in seiner nationalen Sicherheitsstrategie.
Das Papier verurteilt westliche, antichinesische Kräfte, die versuchten, die Region zu verwestlichen und zu spalten. Die Sorge vor westlichem Einfluss, der die postulierte Einigkeit bedroht, beschränkt sich in Peking jedoch nicht nur auf Nachbar- und Anrainerstaaten. Die nationale Sicherheitsstrategie warnt vor einzelnen Staaten, die sich in Chinas innere Angelegenheiten einmischten. Besonders die Taiwan-Frage sowie Separatismusbewegungen in Xinjiang, Tibet und Hongkong sieht China durch den Westen bestärkt – alles Kräfte, die aus Pekings Sicht der angestrebten „ethnischen Einheit“ widersprechen.
Allerdings sind Chinas Sicherheitsbedenken nicht ausschließlich geopolitisch oder antiwestlich geprägt. Peking identifiziert die eigene Abhängigkeit von kritischen Technologien als strukturelles Problem. Auch das Wirtschaftswachstum, das nach den Lockdowns der Corona-Zeit noch nicht das erwünschte Niveau erreicht hat, wird im White Paper als sicherheitspolitische Angelegenheit betrachtet Darüber hinaus finden sich im White Paper Themen, die im Westen unter dem Begriff „hybride Bedrohungen“ eingeordnet werden würden. Die Autorinnen und Autoren sprechen vom zunehmenden Verschmelzen traditioneller und nicht-traditioneller Sicherheitsbedrohungen. Die systematische Identifikation und Abwehr existenzieller Gefahren soll zentraler Anspruch der nationalen Sicherheit sein. Mit Gesetzesinitiativen zur Cyber-Sicherheit und Anti-Terror-Maßnahmen hat Beijing diesen Anspruch hinterlegt.